Erfolg durch Selbstermächtigung.
Charisma als Management-Ressource?

Winfried Gebhardt

 

Wir leben – darin sind wir uns quer über alle politische Lager hinweg fast alle einig – in einem Zeitalter des Individualismus. Als ›Kinder der Freiheit‹ – um ein Wort des Paten der soziologischen Individualisierungstheorie, Ulrich Beck, aufzunehmen – sind wir nicht nur von unserer Individualität überzeugt, sondern glauben sogar daran, dass jedes Individuum etwas ganz Besonderes ist, und verehren deshalb Authentizität und Echtheit als neue, unpersönliche Gottheiten (vgl. Beck 1997). ›Entdecke Dich selbst‹ und ›Finde Deinen Weg‹ sind die Zentralmythen der ›zweiten, der späten Moderne‹, die Kindern und Jugendlichen schon in der Schule eingeimpft und durch die populäre Kultur inzwischen auch weltweit verbreitet werden. Und dabei spielt es keine Rolle, ob diese Zentralmythen eher ökologisch-linksliberal oder eher konservativ-neoliberal eingekleidet sind.

Das ist die Seite des ›schönen Scheins‹. So richtig die soziologische Diagnose von der akzelerierenden Individualisierung, der Lösung aus traditionellen Sicherheiten und institutionalisierten Verbindlichkeiten auch sein mag, die Steigerung der individuellen Wahlfreiheit ist – wie Ulrich Beck von Anfang an betont hat (was aber jedenfalls in der außersoziologischen Diskussion weitgehend untergegangen ist) – nur eine Seite der Individualisierungsmedaille. Individualisierung hat immer ein Doppelgesicht. Der Steigerung der individuellen Optionen stehen neue, weitgehend unpersönliche Formen der Standardisierung entgegen, die das individuelle Freiheitsversprechen oftmals zur Farce verkommen lassen, weil sie das moderne Individuum in die Zwangsjacke überbürokratisierter, rechtlich abgesicherter ›Qualitätsstandards‹ und ›Kompetenzvorgaben‹ stecken, deren Rationalität sich individueller Überprüfung entzieht und die Individualität nur noch in vordefinierten Formen zulassen (vgl. Beck 1986, Gross 1994, Prisching 2009). Das beste Beispiel für diese auch politisch gewollte Kastration von Individualität im Namen derselben sind die meisten der heute existierenden Bachelor- und Master-Studiengänge, die durch Überreglementierung und Standardisierung die Individualität der Studienleistung und damit die Persönlichkeitsbildung der Studierenden zumindest behindern, jedenfalls einen Habitus unter Studenten und Studentinnen befördern, der auf möglichst kostenarme Erfüllung vorgegebener Standardziele gerichtet ist und nicht auf die Ausbildung eines eigenständigen, individuellen Profils (vgl. Prisching 2008) – was sich inzwischen auch schon in den Führungsetagen deutscher Wirtschaftsunternehmen herumgesprochen hat (allerdings noch nicht in deren Lobbyistenverbänden, die immer noch eifrig das Bologna-Mantra von der notwendigen Berufsorientierung des Studiums murmeln).

Der spätmoderne Mensch lebt unter Individualisierungsbedingungen – vielleicht ungewollt und ungewünscht – in und mit einer fundamentalen Paradoxie. Er soll etwas Individuelles, Besonderes, Echtes, Kreatives und Authentisches sein und gleichzeitig ein funktionierendes Rädchen in einem ständig wachsenden verrechtlichten, digitalisierten und bürokratisierten Regelwerk von standardisierten Kompetenzzumutungen, Evaluationen und Qualitätssicherungsmaßnahmen. Diese fundamentale Paradoxie der Spätmoderne geistig zu bewältigen, scheint nicht einfach zu sein. Jedenfalls wächst das Heer der Ratgeber, Unternehmensberater, Motivations-Trainer und Personal Coaches ständig an, die alle versprechen, auf die besonderen Anforderungen der Spätmoderne sowohl im Beruf als auch im Privaten erfolgreich vorzubereiten. Und an der Spitze dieser ganzen Bewegung stehen die Charisma-Trainer und die von ihnen verfassten Charisma-Ratgeber. Charisma entwickeln und zielführend einsetzen – das kann jeder lernen, der sich bemüht – das ist die Botschaft der Charisma-Trainer, eine Botschaft, die über Jahre hinweg ihren Reiz nicht verloren hat. Wer Charisma hat, der ist erfolgreich und wird bewundert und geliebt, so heißt es. Denn Charisma steht als Symbol für ein Höchstmaß an Besonderheit, Ausstrahlungskraft und Führungskraft. Doch dies ist eben nur die eine, die Marketing-Seite der neoliberal-pädagogisch-psychologischen Verzauberung der Realität im Namen des Charismas.  Die These dieses Beitrags lautet anders: Die Botschaft der Charisma-Trainer verspricht nur das Besondere, aber produziert das immer Gleiche: standardisierte und deshalb kapitalismusaffine Individualität als glitzerndes Selbstermächtigungs-Portfolio.

Diese hier formulierte These soll im Folgenden erläutert werden. Zuerst werden die Zentrallehren und Zentraltechniken ausgewählter Charisma-Ratgeber und -Trainer vorgestellt. Danach sollen die dort gegebenen Versprechen kontrastiert werden mit den Kernaussagen der soziologischen Charisma-Theorie. Ausgehend von Max Webers Theorie der charismatischen Herrschaft (Weber 1976) und in Anschluss an die zeitdiagnostischen Arbeiten von Manfred Prisching (2003, 2008, 2009), soll schließlich herausgearbeitet werden, dass die heute angebotenen Charisma-Seminare und Charisma-Ratgeber nicht – wie versprochen – Besonderheit, Individualität und Führungskraft vermitteln, sondern das genaue Gegenteil: Konformität, Anpassungsbereitschaft und Opportunismus.

 

1. Charisma entwickeln und zielführend einsetzen – die Botschaft der Charisma-Trainer

Es gibt inzwischen unzählige Charisma-Ratgeber, die im weiten und unübersichtlichen Feld der Unternehmensberatung und hier insbesondere innerhalb des noch unübersichtlicheren Bereichs der Personalführung, der Motivationspsychologie und des Coachings alle für sich beanspruchen, ihren Lesern und Seminarteilnehmern »Charisma« anzutrainieren. Diese ausgewählten Charisma-Ratgeber verkaufen sich (ebenso wie die meisten der von den Autoren angebotenen Seminare und Workshops) sehr gut und dies, obwohl das Versprechen, zur charismatischen Führungspersönlichkeit ausgebildet zu werden, nicht unbedingt neu ist. Die Welle beginnt bereits in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, hält sich aber – in immer neuen Modifikationen und Verkleidungen – bis heute. Der Reiz des Charisma-Versprechens hat scheinbar nichts von seiner Attraktivität verloren. Ein Blick in Google zeigt bei der Eingabe des Stichworts Charisma-Seminare allein über 400.000 Treffer (im deutschsprachigen Raum). Charisma hat ganz offensichtlich Charisma.

Vielleicht ist es sogar so, dass in den Zeiten eines sich globalisierenden Unternehmertums und der Komplexitätssteigerung der damit verbundenen Aufgaben die sogenannten Führungskräfte (also das mittlere Management) nicht nur immer vor neue Herausforderungen gestellt, sondern sogar zu einem konstanten Handeln in Unsicherheit und Ungewissheit gezwungen werden – was nicht wirklich neu ist, aber unter Globalisierungsbedingungen eben eine neue Qualität annimmt. In dieser Situation mag dann Charisma – wie ein Phönix aus der Asche aufsteigend – als die einzige Lösung erscheinen, diese komplexen Aufgaben bewältigen zu können – zumal weder die gängigen Ausbildungswege in der Betriebswirtschaftslehre noch in der Volkswirtschaftslehre (auch nicht – oder vielleicht gerade nicht – an den sogenannten Elitehochschulen) angemessen darauf vorbereiten.

Die Zahl der Charisma-Ratgeber allein im deutschsprachigen Raum ist beachtlich, die Inhalte und Versprechungen, die sie im Titel tragen, sind allerdings fast immer die gleichen. Typische Titel lauten:

  • Das Charisma-Geheimnis. Wie Jeder die Kunst erlernen kann, andere Menschen in seinen Bann zu ziehen (Olivia Fox Cabane)
  • Charisma Coaching: Von der Ausstrahlungskraft zur Anziehungskraft (Martina Schmidt-Tanger)
  • Charisma – Mit Strategie und Persönlichkeit zum Erfolg: Der Charisma-Code (Eva B. Müller)
  • Einfach mehr Charisma. Was uns wirklich beeindruckt (Claudia A. Enkelmann)
  • Beruflicher und privater Erfolg durch Persönlichkeit (Nikolaus B. Enkelmann)
  • Charisma-Training. Ein erfolgsorientiertes Programm zum gezielten Aufbau eines überzeugenden Persönlichkeitsprofils (Gerhard H. Eggetsberger)
  • Einkauf als Erlebnis. So kitzeln Sie die Sinne Ihrer Kunden (Claudius A. Schmitz)

Diese hier genannten deutschen Charisma-Ratgeber, die nur eine Auswahl auf einem expandierenden Markt darstellen, orientieren sich in der Regel an amerikanischen Vorbildern, insbesondere an dem Klassiker der Charisma-Ratgeberliteratur Charisma – 7 Keys to Developing the Magnetism that Leads to Success, verfasst von dem US-amerikanischen Unternehmensberater und Management-Trainer Tony Alessandra, auf den im Folgenden auch immer wieder Bezug genommen wird.

Was alle diese unterschiedlichen Charisma-Ratgeber miteinander verbindet, ist das Versprechen, Charisma mit Hilfe jeweils spezifischer Techniken erwerben beziehungsweise erlernen zu können, um damit ein Mehr an ›Persönlichkeit‹ zu gewinnen, welches dann als die Voraussetzung für beruflichen und privaten Erfolg und die Steigerung persönlicher Macht gelten soll.

Bei fast allen Autoren spielt die Entwicklung der Persönlichkeit die zentrale Rolle. Fast alle suggerieren dem Käufer (und Seminar-Teilnehmer), dass er ohne Persönlichkeit nur mittelmäßig oder sogar ein Nichts sei, und dass nur ein Mehr an Persönlichkeit, und zwar ein Mehr an einer außergewöhnlichen Persönlichkeit, ihm helfen könne, wo auch immer, erfolgreich zu sein. Tony Alessandra, den man als den Vater aller Charisma-Trainer bezeichnen könnte, weil er mit seinem Konzept wegweisend für viele seiner Kollegen geworden ist, verspricht nicht nur eine außergewöhnliche Persönlichkeit und ein unverwechselbares Image als Ergebnis des Besuchs seiner Seminare, sondern sogar Gottähnlichkeit: »You will be so charismatic, people would think you were a god!« (Alessandra 1998, 12). Und fast alle anderen folgen ihm in diesem Versprechen: Herausragen aus der Masse, Außeralltäglichkeit, Verzauberung, Strahlkraft – all das kann man gewinnen, wenn man sich bemüht (und dafür bezahlt). Ein Beispiel dafür findet sich in einer Werbebroschüre des Charisma-Trainers Jörg Abromeit. Er bietet zweitägige Seminare an für 1.870 Euro pro Person zzgl. Mehrwertsteuer, Höchstteilnehmerzahl 6:

Charismatische Menschen haben immer Hochkonjunktur, denn sie schaffen emotional, was mit rationalen Argumenten oft nicht gelingen will: Menschen begeistern und nachhaltig überzeugen. […] In Krisenzeiten können sie für notwendige Veränderungen sorgen, in guten Zeiten sind sie Symbole des Vertrauens. […] Charismatiker erzeugen die positive Art der Aufmerksamkeit, die für die emotionale Aufladung von Menschen und Marken sorgt (www.redeakademie.de/seminare/charisma-ausstrahlung/). 

Wie aber sieht der Erwerb von Charisma nun aus? Was wird ›gelernt‹, welche Fähigkeiten und Kompetenzen werden vermittelt beziehungsweise andressiert? Und wie und mit Hilfe welcher Methoden geschieht das? Der Erwerb von Charisma basiert jedenfalls und vor allem auf ›harter Arbeit‹ und bedarf der Anleitung. »Einigen wird Charisma in die Wiege gelegt«, sagt die Charisma-Trainerin Eva B. Müller, »die meisten Menschen müssen an ihrem Charisma hart arbeiten« (www.evabmueller.de/publikationen/).

Wie diese ›harte‹ Arbeit im Einzelnen zu gestalten ist, da unterscheiden sich die jeweiligen Charisma-Trainer durchaus, weil jeder eigene Besonderheiten besitzt und dementsprechend eigene Schwerpunkte setzt. Fast alle haben aber die folgenden Methoden in ihrem Repertoire:

  1. Die Programmierung durch positive Glaubenssätze (positives Denken, Verbannung aller negativen Gedanken). Diese Programmierung basiert in der Regel auf NLP (Neurolinguistisches Programmieren: eine in den 70er Jahren entwickelte, inzwischen schon fast klassische Psychotechnik, die im Kern auf Entspannungstechniken und der penetranten, lautstarken, im enthusiastischen Stakkato vorgetragenen Wiederholung des Immergleichen beruht und deshalb durchaus Anleihen beim buddhistischen Mantra oder bei Taizé-Gebeten und Gesängen macht, weil ja, wie dort auch, ein neuer Bewusstseinszustand erreicht werden soll).
  2. Soll-Analyse mit daraus folgender Veränderungsstrategie. Auch diese Methode ist aus der Psychotherapie und Sozialpädagogik bekannt und besteht aus vier Schritten. Auf einen Soll-Ist-Vergleich folgt die Formulierung eines ›Need Gap‹, dann die Formulierung eines Ziels, das niedergeschrieben wird. Dem folgt das Einholen des Commitments der anderen, ist dies erfolgt, kann die Umsetzung beginnen. Dies wird wie alles andere auch unter Anleitung und Kontrolle stetig geübt.
  3. Entwicklung von Visionen und Sinn. Fast alle Charisma-Ratgeber und Trainer fordern dazu auf, eine Vision zu entwickeln, weil Menschen mit Visionen andere Menschen begeistern und eigene Schwächen kompensieren. Wie man das macht, sagt in exemplarischer Art und Weise Tony Alessandra (Alessandra 1998, 252ff.):
  • Hören Sie auf Ihre innere Berufung!
  • Holen Sie sich ein Feedback!
  • Minimieren Sie Ihre Schwächen!
  • Konzentrieren Sie sich auf Ihre Stärken!
  • Schreiben Sie ein Mission-Statement!
  • Fragen Sie nach der Belohnung!
  • Nehmen Sie sich Zeit für sich selbst!
  • Lassen Sie sich nicht ablenken!
  • Tun Sie es!
  1. Vertrauensaufbau durch Gefühlserkennung und Zuhören-Können. Die Gefühle der anderen zu erkennen und steuern zu können, ebenso die Fähigkeit, Vertrauen erwecken und stabilisieren zu können, halten fast alle Charisma-Trainer für unerlässlich. Auch hier gibt Tony Alessandra vorbildhaft die entscheidenden Tipps (ebd., 113ff.):
  • Hören Sie einem Menschen einen Tag lang zu!
  • Stellen Sie eine gute Atmosphäre her!
  • Übertreiben Sie nicht!
  • Wenn Sie jemand unterbricht, schlagen Sie nicht zurück!
  • Hören Sie empathisch zu (d.h. machen Sie ein Gesicht, als ob das Gesagte Sie interessiert)!
  1. Die meisten Charisma-Trainer leiten dezidiert zur Imagebildung an. Das neu kreierte Image soll Präsenz, Aura und Energie nach außen werfen und Begeisterung und Bewunderung entfachen. Wie man es macht, erfährt man wiederum bei Tony Alessandra (ebd., 74ff.):
  • Positiv denken!
  • Tragen Sie gute Kleidung!
  • Tragen Sie Make-up und Schmuck, rasieren Sie sich!
  • Legen Sie ärgerliche Gewohnheiten ab, spielen Sie nicht mit Stiften oder Ihren Haaren!
  • Geben Sie Geld für teuer aussehende Accessoires aus (Visitenkarten, Briefpapier)!
  • Reden Sie nur mit Gewinnern, nicht mit Verlierern, denn Einstellungen sind ansteckend!
  • Behandeln Sie jeden wie den wichtigsten Menschen auf der Welt!
  • Machen Sie ehrliche Komplimente!
  • Treiben Sie Sport!
  1. Klassische Rhetorik (Speaking with Authority), Etikette und Zeitmanagement. Ein Charismatiker muss nicht nur ein guter Redner sein und in jeder Situation wissen, wie er sich zu benehmen hat. Er muss auch ein gewisses Maß an Selbstdisziplin besitzen und immer wissen, wann Schluss ist. Und dieser Schluss muss inszeniert sein. Folgendes sollte er können und muss es deshalb stetig (am besten unter professioneller, kostenpflichtiger Anleitung) üben (ebd., 109ff. und 185ff.):
  • Haben Sie Leidenschaft für Ihr Thema!
  • Fassen Sie sich kurz!
  • Vermeiden Sie Stolperfallen!
  • Benutzen Sie Memory Jogger!
  • Prägen Sie sich den ›reason why‹ Ihrer Rede ein!
  • Lassen Sie sich nicht ablenken!
  • Bauen Sie sprachliche Pausen ein!
  • Nutzen Sie Humor!
  • Schwächeln Sie am Ende nicht!

Und in Bezug auf das Zeitmanagement:

  • Verströmen Sie Charisma auch in virtuellen Konferenzen, indem Sie z.B. die Telekonferenz pünktlich beginnen!

Alles das, was hier als Techniken des Charisma-Erwerbs vorgestellt wurde, sind bekannte Methoden und Verfahren, die man aus der Psychotherapie, der Motivationspsychologie, der Sozialpädagogik und aus erwachsenenpädagogischen Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen kennt. Was haben Sie mit Charisma zu tun? Um dem auf die Spur zu kommen, bietet es sich an, das Charisma der Charisma-Trainer mit dem Charisma der Charisma-Theorie Max Webers zu vergleichen.

 

2. Das Charisma-Konzept Max Webers

Der Begriff des Charismas spielt im soziologischen und nationalökonomischen Werk Max Webers eine bedeutende Rolle. Weit über die Wissenschaft hinaus bekannt ist der in seiner Herrschaftssoziologie entwickelte Begriff der charismatischen Herrschaft und des charismatischen Führers, aber auch in seiner Religionssoziologie nimmt Charisma einen wichtigen Platz ein, weil Weber den Ursprung aller Religion in außeralltäglichen, charismatischen Erfahrungen und deren Bewältigungsnotwendigkeit sieht (vgl. Gebhardt/Ebertz/Zingerle 1993).

Als Charisma bezeichnet Max Weber im allgemeinsten Sinne eine spezifische, weil als außeralltäglich gedachte Kraft oder Zuständlichkeit, die bestimmten Gegenständen, Ideen oder Personen zugesprochen wird – und schließt damit an die ursprüngliche, paulinische Wortbedeutung an, die Charisma als (von Gott geschenkte) ›Gnadengabe‹ sieht. Seine Außeralltäglichkeit gewinnt das Charisma allein dadurch, dass es immer nur einzelne, wenige, ausgewählte Gegenstände, Ideen oder Personen sind, die sie besitzen, und dass sie nur in besonderen, von Weber zumeist als extreme Notlagen beschriebenen Situationen auftritt. Deshalb gilt diese charismatische Kraft in Webers Worten als das »nie Dagewesene«, »nicht jedem Zugängliche«, »absolut Einzigartige« und deshalb »Göttliche« (Weber 1976, 140 und 658). Diese Kraft konstituiert dann eine soziale Beziehung, die allein auf der außeralltäglichen, gläubigen, freien, leidenschaftlichen und rein persönlichen Hingabe bestimmter Menschen an die Wunderkraft eines Gegenstandes oder an die Vorbildlichkeit oder Heldenkraft einer Person und, zumeist, aber nicht notwendig damit verbunden, an die Heiligkeit und Offenbarung einer Idee oder Botschaft beruht. Folgende Merkmale zeichnet die charismatische Herrschaft nach Max Weber aus (vgl. Weber 1976, 654-681):

  • Charismatische Herrschaft ist ein Phänomen des Glaubens, keine Eigenschaft einer Person – auch wenn sie in der Regel an bestimmte, allerdings differieren könnende Persönlichkeitsmerkmale gebunden ist.
  • Charismatische Herrschaft verlangt von ihren Anhängern leidenschaftliche Hingabe und Gehorsam bis hin zur Opferbereitschaft.
  • Charismatische Herrschaft hat eine spezifische Sendungsidee, die in der Regel die Überwindung der Leiden der Gegenwart und eine für alle bessere Zukunft verspricht.
  • Charismatische Herrschaft ist spezifisch wirtschafts- und organisationsfremd, basiert auf Willkür und Spontaneität und finanziert sich aus Spenden oder Beute.
  • Charismatische Herrschaft ist die große revolutionäre Macht in der Geschichte, die Altes überwindet und Neues schafft.
  • Charismatische Herrschaft ist spezifisch labil, weshalb jeder charismatische Aufbruch einer Veralltäglichung unterliegt, das Charisma also in die Alltagsformen von Herrschaft, die traditionale und die legale Herrschaft, notwendig transformiert wird.

Vergleicht man nun die Lehren der Charisma-Trainer mit der Charisma-Theorie Max Webers, so ist das Ergebnis eindeutig. Obwohl sich einzelne der Ratgeber-Autoren ab und zu auf Max Weber berufen, haben beide Konzepte nichts gemein. Es gibt – vielleicht auf den ersten Blick – einige Berührungspunkte wie zum Beispiel die, dass auch Charisma-Trainer die Bedeutung einer Missionsidee betonen. Schaut man aber genauer hin, wird sofort deutlich, dass nicht das Gleiche gemeint ist. Während Weber mit einer Sendungsidee eine gerade revolutionäre Umgestaltung der Wirklichkeit meint, sehen die Charisma-Trainer darin in der Regel nichts anderes als eine Steigerung bereits etablierter Leistungen. Charisma ist bei Max Weber spezifisch wirtschafts-, rationalitäts- und organisationsfremd, das Charisma der Charisma-Trainer soll den Rationalitätsgrad, die Planbarkeit und Berechenbarkeit eingespielter Wirtschaftsorganisationen und Wirtschaftsabläufe erhöhen. Das Charisma bei Max Weber ist spezifisch labil, das Charisma der Charisma-Trainer soll auf Dauer gestellten Erfolg garantieren. Der entscheidende Unterschied ist aber der folgende: Während Max Weber – und in seinem Gefolge der Mainstream der heutigen Sozialwissenschaften (vgl. Gebhardt 1994, 24-33) – Charisma als eine letztendlich unergründbare ›Gnadengabe‹ betrachtet, sehen die Autoren der Ratgeber darin etwas, das rational konstruierbar, technisch (durch Verfahren) herstellbar und deshalb für jeden erwerbbar ist. Man kann es auch anders sagen: Während die Charisma-Trainer Charisma für alle versprechen, ist Max Weber der Überzeugung, dass, wenn alle Charismatiker sind, es keinen Charismatiker mehr geben kann.

 

3. Soft-Skills in charismatischer Verkleidung

Man kann also festhalten: Charisma-Trainer verkaufen nicht Charisma (allein schon deshalb, weil Charisma nicht verkaufbar ist), sondern etwas, das sie Charisma nennen. Was aber ist dieses Etwas?

Wie oben schon angedeutet, sind die Ratschläge, Tipps, Methoden und Techniken, die in den Ratgebern angepriesen und in den Seminaren eingesetzt werden, alles andere als kreativ, neu und innovativ. Sie sind vielmehr ein Sammelsurium schon lange praktizierter Lern- und Präsentationstechniken, die Fähigkeiten wie Pünktlichkeit, klare Artikulation, Selbstbeherrschung und Disziplin, körperliche Fitness und Sozialkompetenz schulen sollen. Denken Sie nur an die vorher genannte Aussage von Tony Alessandra: Verströmen Sie Charisma auch in virtuellen Konferenzen, indem Sie z.B. die Telekonferenz pünktlich beginnen!  Charisma-Generierung durch Einhaltung von traditionellen Regeln und Normen wie Pünktlichkeit – Max Weber würde sich vor Lachen ausschütten. Ein echter Charismatiker ist nie pünktlich – auf ihn muss man warten. Das steigert die Erregung, die Vorfreude, die Erwartungen und ermöglicht erst so die enthusiastische, bis hin zur Ekstase sich steigernde Hingabe an das Außerordentliche, Nie-Dagewesene und eben deshalb Göttliche, die eine charismatische Beziehung erst möglich macht.

Was in Charisma-Seminaren gelehrt wird und gelernt werden soll, sind nichts anderes als marketingstrategisch ›aufgepeppte‹ soft skills: Kommunikationsfähigkeit, Teamfähigkeit, Karriere-planung, Verhandlungstechniken, Konfliktlösungsmethoden, Zeitmanagement, Präsentationstechniken, Rhetorik, Moderationstraining etc. – alles Dinge, die man braucht, um sich in einem Unternehmen (oder in einer Behörde) nach ›oben‹ zu arbeiten, alles Dinge, die man braucht, um positiv im Sinne der Unternehmensziele aufzufallen, alles Dinge also, die man braucht, um gut zu funktionieren (vgl. Müller 2009). Man kann sicher darüber streiten, ob man das alles wirklich braucht, um Karriere zu machen, und wenn ja, ob man diese Fähigkeiten in Seminaren, unabhängig von konkreten Inhalten und Sachkompetenzen, lernen kann. Aber selbst, wenn man der Überzeugung ist, dass man es braucht und dass man es lernen kann, verbleibt die Frage: Hat das irgendetwas mit Charisma zu tun? Die Antwort ist klar: Nein! Dann stellt sich wiederum die weiterführende Frage: Warum werden diese Fähigkeiten unter dem Etikett des Charismas verkauft?

Individualität, Nonkonformität, Eigenständigkeit gelten unter den Bedingungen des globalen Kapitalismus (und des daraus abgeleiteten Bologna-Diktats) als ein Systemdefizit. Aber das darf man heute nicht mehr sagen, ohne sofort des Defätismus geziehen zu werden (vgl. Zilian 2000, Gebhardt 2003). Somit müssen sie unter dem Titel der Selbstentfaltung, Selbstoptimierung, ja Selbstermächtigung, noch besser unter dem Titel des ›geheimnisumwitterten‹ Charismas in einen seminargenerierten Konformismus umgearbeitet werden. Individualität ist erwünscht und gilt gleichzeitig als gefährlich. Ein bisschen anders sein, ein bisschen aus dem Rahmen fallen, aber ohne die Systemgrenzen in Frage zu stellen, das gilt als kreativ und innovationsfördernd. Oder wie einer der gegenwärtigen Stars der Motivationstrainer, der Amerikaner Tony Robbins, marktschreierisch der Welt verkündet: »Break the Rules, but not the Law!« (www.tonyrobbins.com). Denn: Wer nicht nur die Regeln, sondern auch das Gesetz bricht, wer also allzu anders ist, der ist gefährlich und deshalb fällig für das Training. Dieses beseitigt, wie Manfred Prisching sagt, den Affront der Nichtangepasstheit, indem das besondere Potential des Einzelnen gehoben und er selbst zum modellgerechten Menschen zurechtgeschnitzt wird (vgl. Prisching 2003, 68f.). Personalentwicklung, so wie sie heute praktiziert wird, ist Anti-Individualismus unter dem Vorwand, individuelle Potentiale mittels soft skills zu aktivieren. Aktiviert aber werden Fähigkeiten, sich nach Tunlichkeit einem Modell anzubequemen. Dass dies unter dem Etikett des Charismas geschieht, zählt zu den grundlegenden Paradoxien der Spätmoderne. Man könnte aber auch sagen: Es gehört zu den besten Treppenwitzen der Weltgeschichte.

 

Literatur

Alessandra, Tony 1998: Charisma – 7 Keys to Developing the Magnetism that leads to Success. New York: Business Plus.

Beck, Ulrich 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Beck, Ulrich (Hg.) 1997: Kinder der Freiheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Gebhardt, Winfried 1986: Charisma als Lebensform. Zur Soziologie des alternativen Lebens. Berlin: Reimer.

Gebhardt, Winfried 2003: ›Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz‹. Über das Karriereleitbild des Machers. In: Ronald Hitzler/Michaela Pfadenhauer (Hg.): Karrierepolitik. Beiträge zur Rekonstruktion erfolgsorientierten Handelns. Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 43-52.

Gebhardt, Winfried/Ebertz, Michael N./Zingerle, Arnold (Hg.) 1993: Charisma. Theorie – Politik – Religion. Berlin/New York: De Gruyter.

Gross, Peter 1994: Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Müller, Eva Brigitta 2009: Charismania. Charisma als ›Doping‹ für Persönlichkeit und Karriere? Eine Untersuchung von sieben Charisma-Ratgebern. Diss. Universität Koblenz-Landau.

Prisching, Manfred 2003: Seelentraining. Über eine neue Dimension der Karrierepolitik. In: Ronald Hitzler/Michaela Pfadenhauer (Hg.): Karrierepolitik. Beiträge zur Rekonstruktion erfolgsorientierten Handelns. Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 53-70.

Prisching, Manfred 2008: Bildungsideologien. Ein zeitdiagnostischer Essay an der Schwelle zur Wissensgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS.

Prisching, Manfred 2009: Das Selbst. Die Maske. Der Bluff. Über die Inszenierung der eigenen Person. Wien/Graz/Klagenfurt: Molden.

Weber, Max 1976: Wirtschaft und Gesellschaft. 5. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck.

Zilian, Hans-Georg 2000: Taylerismus der Seele. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 25, 75-97.

Online-Quellen

https://www.evabmueller.de/publikationen/, zuletzt abgerufen am 14.06.19.

https://www.redeakademie.de/seminare/charisma-ausstrahlung/, zuletzt abgerufen am 14.06.19.

https://www.tonyrobbins.com/, zuletzt abgerufen am 14.06.19.