Erfolg durch Selbstermächtigung.
Charisma als Management-Ressource?

Win­fried Gebhardt

 

Wir leben – dar­in sind wir uns quer über alle poli­ti­sche Lager hin­weg fast alle einig – in einem Zeit­al­ter des Indi­vi­dua­lis­mus. Als ›Kin­der der Frei­heit‹ – um ein Wort des Paten der sozio­lo­gi­schen Indi­vi­dua­li­sie­rungs­theo­rie, Ulrich Beck, auf­zu­neh­men – sind wir nicht nur von unse­rer Indi­vi­dua­li­tät über­zeugt, son­dern glau­ben sogar dar­an, dass jedes Indi­vi­du­um etwas ganz Beson­de­res ist, und ver­eh­ren des­halb Authen­ti­zi­tät und Echt­heit als neue, unper­sön­li­che Gott­hei­ten (vgl. Beck 1997). ›Ent­de­cke Dich selbst‹ und ›Fin­de Dei­nen Weg‹ sind die Zen­tral­my­then der ›zwei­ten, der spä­ten Moder­ne‹, die Kin­dern und Jugend­li­chen schon in der Schu­le ein­ge­impft und durch die popu­lä­re Kul­tur inzwi­schen auch welt­weit ver­brei­tet wer­den. Und dabei spielt es kei­ne Rol­le, ob die­se Zen­tral­my­then eher öko­lo­gisch-links­li­be­ral oder eher kon­ser­va­tiv-neo­li­be­ral ein­ge­klei­det sind.

Das ist die Sei­te des ›schö­nen Scheins‹. So rich­tig die sozio­lo­gi­sche Dia­gno­se von der akze­le­rie­ren­den Indi­vi­dua­li­sie­rung, der Lösung aus tra­di­tio­nel­len Sicher­hei­ten und insti­tu­tio­na­li­sier­ten Ver­bind­lich­kei­ten auch sein mag, die Stei­ge­rung der indi­vi­du­el­len Wahl­frei­heit ist – wie Ulrich Beck von Anfang an betont hat (was aber jeden­falls in der außer­so­zio­lo­gi­schen Dis­kus­si­on weit­ge­hend unter­ge­gan­gen ist) – nur eine Sei­te der Indi­vi­dua­li­sie­rungs­me­dail­le. Indi­vi­dua­li­sie­rung hat immer ein Dop­pel­ge­sicht. Der Stei­ge­rung der indi­vi­du­el­len Optio­nen ste­hen neue, weit­ge­hend unper­sön­li­che For­men der Stan­dar­di­sie­rung ent­ge­gen, die das indi­vi­du­el­le Frei­heits­ver­spre­chen oft­mals zur Far­ce ver­kom­men las­sen, weil sie das moder­ne Indi­vi­du­um in die Zwangs­ja­cke über­bü­ro­kra­ti­sier­ter, recht­lich abge­si­cher­ter ›Qua­li­täts­stan­dards‹ und ›Kom­pe­tenz­vor­ga­ben‹ ste­cken, deren Ratio­na­li­tät sich indi­vi­du­el­ler Über­prü­fung ent­zieht und die Indi­vi­dua­li­tät nur noch in vor­de­fi­nier­ten For­men zulas­sen (vgl. Beck 1986, Gross 1994, Pri­sching 2009). Das bes­te Bei­spiel für die­se auch poli­tisch gewoll­te Kas­tra­ti­on von Indi­vi­dua­li­tät im Namen der­sel­ben sind die meis­ten der heu­te exis­tie­ren­den Bache­lor- und Mas­ter-Stu­di­en­gän­ge, die durch Über­re­gle­men­tie­rung und Stan­dar­di­sie­rung die Indi­vi­dua­li­tät der Stu­di­en­leis­tung und damit die Per­sön­lich­keits­bil­dung der Stu­die­ren­den zumin­dest behin­dern, jeden­falls einen Habi­tus unter Stu­den­ten und Stu­den­tin­nen beför­dern, der auf mög­lichst kos­ten­ar­me Erfül­lung vor­ge­ge­be­ner Stan­dard­zie­le gerich­tet ist und nicht auf die Aus­bil­dung eines eigen­stän­di­gen, indi­vi­du­el­len Pro­fils (vgl. Pri­sching 2008) – was sich inzwi­schen auch schon in den Füh­rungs­eta­gen deut­scher Wirt­schafts­un­ter­neh­men her­um­ge­spro­chen hat (aller­dings noch nicht in deren Lob­by­is­ten­ver­bän­den, die immer noch eif­rig das Bolo­gna-Man­tra von der not­wen­di­gen Berufs­ori­en­tie­rung des Stu­di­ums murmeln).

Der spät­mo­der­ne Mensch lebt unter Indi­vi­dua­li­sie­rungs­be­din­gun­gen – viel­leicht unge­wollt und unge­wünscht – in und mit einer fun­da­men­ta­len Para­do­xie. Er soll etwas Indi­vi­du­el­les, Beson­de­res, Ech­tes, Krea­ti­ves und Authen­ti­sches sein und gleich­zei­tig ein funk­tio­nie­ren­des Räd­chen in einem stän­dig wach­sen­den ver­recht­lich­ten, digi­ta­li­sier­ten und büro­kra­ti­sier­ten Regel­werk von stan­dar­di­sier­ten Kom­pe­tenz­zu­mu­tun­gen, Eva­lua­tio­nen und Qua­li­täts­si­che­rungs­maß­nah­men. Die­se fun­da­men­ta­le Para­do­xie der Spät­mo­der­ne geis­tig zu bewäl­ti­gen, scheint nicht ein­fach zu sein. Jeden­falls wächst das Heer der Rat­ge­ber, Unter­neh­mens­be­ra­ter, Moti­va­tions-Trai­ner und Per­so­nal Coa­ches stän­dig an, die alle ver­spre­chen, auf die beson­de­ren Anfor­de­run­gen der Spät­mo­der­ne sowohl im Beruf als auch im Pri­va­ten erfolg­reich vor­zu­be­rei­ten. Und an der Spit­ze die­ser gan­zen Bewe­gung ste­hen die Cha­ris­ma-Trai­ner und die von ihnen ver­fass­ten Cha­ris­ma-Rat­ge­ber. Cha­ris­ma ent­wi­ckeln und ziel­füh­rend ein­set­zen – das kann jeder ler­nen, der sich bemüht – das ist die Bot­schaft der Cha­ris­ma-Trai­ner, eine Bot­schaft, die über Jah­re hin­weg ihren Reiz nicht ver­lo­ren hat. Wer Cha­ris­ma hat, der ist erfolg­reich und wird bewun­dert und geliebt, so heißt es. Denn Cha­ris­ma steht als Sym­bol für ein Höchst­maß an Beson­der­heit, Aus­strah­lungs­kraft und Füh­rungs­kraft. Doch dies ist eben nur die eine, die Mar­ke­ting-Sei­te der neo­li­be­ral-päd­ago­gisch-psy­cho­lo­gi­schen Ver­zau­be­rung der Rea­li­tät im Namen des Cha­ris­mas.  Die The­se die­ses Bei­trags lau­tet anders: Die Bot­schaft der Cha­ris­ma-Trai­ner ver­spricht nur das Beson­de­re, aber pro­du­ziert das immer Glei­che: stan­dar­di­sier­te und des­halb kapi­ta­lis­mus­af­fi­ne Indi­vi­dua­li­tät als glit­zern­des Selbstermächtigungs-Portfolio.

Die­se hier for­mu­lier­te The­se soll im Fol­gen­den erläu­tert wer­den. Zuerst wer­den die Zen­tral­leh­ren und Zen­tral­tech­ni­ken aus­ge­wähl­ter Cha­ris­ma-Rat­ge­ber und ‑Trai­ner vor­ge­stellt. Danach sol­len die dort gege­be­nen Ver­spre­chen kon­tras­tiert wer­den mit den Kern­aus­sa­gen der sozio­lo­gi­schen Cha­ris­ma-Theo­rie. Aus­ge­hend von Max Webers Theo­rie der cha­ris­ma­ti­schen Herr­schaft (Weber 1976) und in Anschluss an die zeit­dia­gnos­ti­schen Arbei­ten von Man­fred Pri­sching (2003, 2008, 2009), soll schließ­lich her­aus­ge­ar­bei­tet wer­den, dass die heu­te ange­bo­te­nen Cha­ris­ma-Semi­na­re und Cha­ris­ma-Rat­ge­ber nicht – wie ver­spro­chen – Beson­der­heit, Indi­vi­dua­li­tät und Füh­rungs­kraft ver­mit­teln, son­dern das genaue Gegen­teil: Kon­for­mi­tät, Anpas­sungs­be­reit­schaft und Opportunismus.

 

1. Charisma entwickeln und zielführend einsetzen – die Botschaft der Charisma-Trainer

Es gibt inzwi­schen unzäh­li­ge Cha­ris­ma-Rat­ge­ber, die im wei­ten und unüber­sicht­li­chen Feld der Unter­neh­mens­be­ra­tung und hier ins­be­son­de­re inner­halb des noch unüber­sicht­li­che­ren Bereichs der Per­so­nal­füh­rung, der Moti­va­ti­ons­psy­cho­lo­gie und des Coa­chings alle für sich bean­spru­chen, ihren Lesern und Semi­nar­teil­neh­mern »Cha­ris­ma« anzu­trai­nie­ren. Die­se aus­ge­wähl­ten Cha­ris­ma-Rat­ge­ber ver­kau­fen sich (eben­so wie die meis­ten der von den Autoren ange­bo­te­nen Semi­na­re und Work­shops) sehr gut und dies, obwohl das Ver­spre­chen, zur cha­ris­ma­ti­schen Füh­rungs­per­sön­lich­keit aus­ge­bil­det zu wer­den, nicht unbe­dingt neu ist. Die Wel­le beginnt bereits in den 70er Jah­ren des 20. Jahr­hun­derts, hält sich aber – in immer neu­en Modi­fi­ka­tio­nen und Ver­klei­dun­gen – bis heu­te. Der Reiz des Cha­ris­ma-Ver­spre­chens hat schein­bar nichts von sei­ner Attrak­ti­vi­tät ver­lo­ren. Ein Blick in Goog­le zeigt bei der Ein­ga­be des Stich­worts Cha­ris­ma-Semi­na­re allein über 400.000 Tref­fer (im deutsch­spra­chi­gen Raum). Cha­ris­ma hat ganz offen­sicht­lich Charisma.

Viel­leicht ist es sogar so, dass in den Zei­ten eines sich glo­ba­li­sie­ren­den Unter­neh­mer­tums und der Kom­ple­xi­täts­stei­ge­rung der damit ver­bun­de­nen Auf­ga­ben die soge­nann­ten Füh­rungs­kräf­te (also das mitt­le­re Manage­ment) nicht nur immer vor neue Her­aus­for­de­run­gen gestellt, son­dern sogar zu einem kon­stan­ten Han­deln in Unsi­cher­heit und Unge­wiss­heit gezwun­gen wer­den – was nicht wirk­lich neu ist, aber unter Glo­ba­li­sie­rungs­be­din­gun­gen eben eine neue Qua­li­tät annimmt. In die­ser Situa­ti­on mag dann Cha­ris­ma – wie ein Phö­nix aus der Asche auf­stei­gend – als die ein­zi­ge Lösung erschei­nen, die­se kom­ple­xen Auf­ga­ben bewäl­ti­gen zu kön­nen – zumal weder die gän­gi­gen Aus­bil­dungs­we­ge in der Betriebs­wirt­schafts­leh­re noch in der Volks­wirt­schafts­leh­re (auch nicht – oder viel­leicht gera­de nicht – an den soge­nann­ten Eli­te­hoch­schu­len) ange­mes­sen dar­auf vorbereiten.

Die Zahl der Cha­ris­ma-Rat­ge­ber allein im deutsch­spra­chi­gen Raum ist beacht­lich, die Inhal­te und Ver­spre­chun­gen, die sie im Titel tra­gen, sind aller­dings fast immer die glei­chen. Typi­sche Titel lauten:

  • Das Cha­ris­ma-Geheim­nis. Wie Jeder die Kunst erler­nen kann, ande­re Men­schen in sei­nen Bann zu zie­hen (Oli­via Fox Cabane)
  • Cha­ris­ma Coa­ching: Von der Aus­strah­lungs­kraft zur Anzie­hungs­kraft (Mar­ti­na Schmidt-Tanger)
  • Cha­ris­ma – Mit Stra­te­gie und Per­sön­lich­keit zum Erfolg: Der Cha­ris­ma-Code (Eva B. Müller)
  • Ein­fach mehr Cha­ris­ma. Was uns wirk­lich beein­druckt (Clau­dia A. Enkelmann)
  • Beruf­li­cher und pri­va­ter Erfolg durch Per­sön­lich­keit (Niko­laus B. Enkelmann)
  • Cha­ris­ma-Trai­ning. Ein erfolgs­ori­en­tier­tes Pro­gramm zum geziel­ten Auf­bau eines über­zeu­gen­den Per­sön­lich­keits­pro­fils (Ger­hard H. Eggetsberger)
  • Ein­kauf als Erleb­nis. So kit­zeln Sie die Sin­ne Ihrer Kun­den (Clau­di­us A. Schmitz)

Die­se hier genann­ten deut­schen Cha­ris­ma-Rat­ge­ber, die nur eine Aus­wahl auf einem expan­die­ren­den Markt dar­stel­len, ori­en­tie­ren sich in der Regel an ame­ri­ka­ni­schen Vor­bil­dern, ins­be­son­de­re an dem Klas­si­ker der Cha­ris­ma-Rat­ge­ber­li­te­ra­tur Cha­ris­ma – 7 Keys to Deve­lo­ping the Magne­tism that Leads to Suc­cess, ver­fasst von dem US-ame­ri­ka­ni­schen Unter­neh­mens­be­ra­ter und Manage­ment-Trai­ner Tony Ales­san­dra, auf den im Fol­gen­den auch immer wie­der Bezug genom­men wird.

Was alle die­se unter­schied­li­chen Cha­ris­ma-Rat­ge­ber mit­ein­an­der ver­bin­det, ist das Ver­spre­chen, Cha­ris­ma mit Hil­fe jeweils spe­zi­fi­scher Tech­ni­ken erwer­ben bezie­hungs­wei­se erler­nen zu kön­nen, um damit ein Mehr an ›Per­sön­lich­keit‹ zu gewin­nen, wel­ches dann als die Vor­aus­set­zung für beruf­li­chen und pri­va­ten Erfolg und die Stei­ge­rung per­sön­li­cher Macht gel­ten soll.

Bei fast allen Autoren spielt die Ent­wick­lung der Per­sön­lich­keit die zen­tra­le Rol­le. Fast alle sug­ge­rie­ren dem Käu­fer (und Semi­nar-Teil­neh­mer), dass er ohne Per­sön­lich­keit nur mit­tel­mä­ßig oder sogar ein Nichts sei, und dass nur ein Mehr an Per­sön­lich­keit, und zwar ein Mehr an einer außer­ge­wöhn­li­chen Per­sön­lich­keit, ihm hel­fen kön­ne, wo auch immer, erfolg­reich zu sein. Tony Ales­san­dra, den man als den Vater aller Cha­ris­ma-Trai­ner bezeich­nen könn­te, weil er mit sei­nem Kon­zept weg­wei­send für vie­le sei­ner Kol­le­gen gewor­den ist, ver­spricht nicht nur eine außer­ge­wöhn­li­che Per­sön­lich­keit und ein unver­wech­sel­ba­res Image als Ergeb­nis des Besuchs sei­ner Semi­na­re, son­dern sogar Gott­ähn­lich­keit: »You will be so cha­ris­ma­tic, peo­p­le would think you were a god!« (Ales­san­dra 1998, 12). Und fast alle ande­ren fol­gen ihm in die­sem Ver­spre­chen: Her­aus­ra­gen aus der Mas­se, Außer­all­täg­lich­keit, Ver­zau­be­rung, Strahl­kraft – all das kann man gewin­nen, wenn man sich bemüht (und dafür bezahlt). Ein Bei­spiel dafür fin­det sich in einer Wer­be­bro­schü­re des Cha­ris­ma-Trai­ners Jörg Abromeit. Er bie­tet zwei­tä­gi­ge Semi­na­re an für 1.870 Euro pro Per­son zzgl. Mehr­wert­steu­er, Höchst­teil­neh­mer­zahl 6:

Cha­ris­ma­ti­sche Men­schen haben immer Hoch­kon­junk­tur, denn sie schaf­fen emo­tio­nal, was mit ratio­na­len Argu­men­ten oft nicht gelin­gen will: Men­schen begeis­tern und nach­hal­tig über­zeu­gen. […] In Kri­sen­zei­ten kön­nen sie für not­wen­di­ge Ver­än­de­run­gen sor­gen, in guten Zei­ten sind sie Sym­bo­le des Ver­trau­ens. […] Cha­ris­ma­ti­ker erzeu­gen die posi­ti­ve Art der Auf­merk­sam­keit, die für die emo­tio­na­le Auf­la­dung von Men­schen und Mar­ken sorgt (www.redeakademie.de/seminare/charisma-ausstrahlung/). 

Wie aber sieht der Erwerb von Cha­ris­ma nun aus? Was wird ›gelernt‹, wel­che Fähig­kei­ten und Kom­pe­ten­zen wer­den ver­mit­telt bezie­hungs­wei­se and­res­siert? Und wie und mit Hil­fe wel­cher Metho­den geschieht das? Der Erwerb von Cha­ris­ma basiert jeden­falls und vor allem auf ›har­ter Arbeit‹ und bedarf der Anlei­tung. »Eini­gen wird Cha­ris­ma in die Wie­ge gelegt«, sagt die Cha­ris­ma-Trai­ne­rin Eva B. Mül­ler, »die meis­ten Men­schen müs­sen an ihrem Cha­ris­ma hart arbei­ten« (www.evabmueller.de/publikationen/).

Wie die­se ›har­te‹ Arbeit im Ein­zel­nen zu gestal­ten ist, da unter­schei­den sich die jewei­li­gen Cha­ris­ma-Trai­ner durch­aus, weil jeder eige­ne Beson­der­hei­ten besitzt und dem­entspre­chend eige­ne Schwer­punk­te setzt. Fast alle haben aber die fol­gen­den Metho­den in ihrem Repertoire:

  1. Die Pro­gram­mie­rung durch posi­ti­ve Glau­bens­sät­ze (posi­ti­ves Den­ken, Ver­ban­nung aller nega­ti­ven Gedan­ken). Die­se Pro­gram­mie­rung basiert in der Regel auf NLP (Neu­ro­lin­gu­is­ti­sches Pro­gram­mie­ren: eine in den 70er Jah­ren ent­wi­ckel­te, inzwi­schen schon fast klas­si­sche Psy­cho­tech­nik, die im Kern auf Ent­span­nungs­tech­ni­ken und der pene­tran­ten, laut­star­ken, im enthu­si­as­ti­schen Stak­ka­to vor­ge­tra­ge­nen Wie­der­ho­lung des Immer­glei­chen beruht und des­halb durch­aus Anlei­hen beim bud­dhis­ti­schen Man­tra oder bei Tai­zé-Gebe­ten und Gesän­gen macht, weil ja, wie dort auch, ein neu­er Bewusst­seins­zu­stand erreicht wer­den soll).
  2. Soll-Ana­ly­se mit dar­aus fol­gen­der Ver­än­de­rungs­stra­te­gie. Auch die­se Metho­de ist aus der Psy­cho­the­ra­pie und Sozi­al­päd­ago­gik bekannt und besteht aus vier Schrit­ten. Auf einen Soll-Ist-Ver­gleich folgt die For­mu­lie­rung eines ›Need Gap‹, dann die For­mu­lie­rung eines Ziels, das nie­der­ge­schrie­ben wird. Dem folgt das Ein­ho­len des Com­mit­ments der ande­ren, ist dies erfolgt, kann die Umset­zung begin­nen. Dies wird wie alles ande­re auch unter Anlei­tung und Kon­trol­le ste­tig geübt.
  3. Ent­wick­lung von Visio­nen und Sinn. Fast alle Cha­ris­ma-Rat­ge­ber und Trai­ner for­dern dazu auf, eine Visi­on zu ent­wi­ckeln, weil Men­schen mit Visio­nen ande­re Men­schen begeis­tern und eige­ne Schwä­chen kom­pen­sie­ren. Wie man das macht, sagt in exem­pla­ri­scher Art und Wei­se Tony Ales­san­dra (Ales­san­dra 1998, 252ff.):
  • Hören Sie auf Ihre inne­re Berufung!
  • Holen Sie sich ein Feedback!
  • Mini­mie­ren Sie Ihre Schwächen!
  • Kon­zen­trie­ren Sie sich auf Ihre Stärken!
  • Schrei­ben Sie ein Mission-Statement!
  • Fra­gen Sie nach der Belohnung!
  • Neh­men Sie sich Zeit für sich selbst!
  • Las­sen Sie sich nicht ablenken!
  • Tun Sie es!
  1. Ver­trau­ens­auf­bau durch Gefühls­er­ken­nung und Zuhö­ren-Kön­nen. Die Gefüh­le der ande­ren zu erken­nen und steu­ern zu kön­nen, eben­so die Fähig­keit, Ver­trau­en erwe­cken und sta­bi­li­sie­ren zu kön­nen, hal­ten fast alle Cha­ris­ma-Trai­ner für uner­läss­lich. Auch hier gibt Tony Ales­san­dra vor­bild­haft die ent­schei­den­den Tipps (ebd., 113ff.):
  • Hören Sie einem Men­schen einen Tag lang zu!
  • Stel­len Sie eine gute Atmo­sphä­re her!
  • Über­trei­ben Sie nicht!
  • Wenn Sie jemand unter­bricht, schla­gen Sie nicht zurück!
  • Hören Sie empa­thisch zu (d.h. machen Sie ein Gesicht, als ob das Gesag­te Sie interessiert)!
  1. Die meis­ten Cha­ris­ma-Trai­ner lei­ten dezi­diert zur Image­bil­dung an. Das neu kre­ierte Image soll Prä­senz, Aura und Ener­gie nach außen wer­fen und Begeis­te­rung und Bewun­de­rung ent­fa­chen. Wie man es macht, erfährt man wie­der­um bei Tony Ales­san­dra (ebd., 74ff.):
  • Posi­tiv denken!
  • Tra­gen Sie gute Kleidung!
  • Tra­gen Sie Make-up und Schmuck, rasie­ren Sie sich!
  • Legen Sie ärger­li­che Gewohn­hei­ten ab, spie­len Sie nicht mit Stif­ten oder Ihren Haaren!
  • Geben Sie Geld für teu­er aus­se­hen­de Acces­soires aus (Visi­ten­kar­ten, Briefpapier)!
  • Reden Sie nur mit Gewin­nern, nicht mit Ver­lie­rern, denn Ein­stel­lun­gen sind ansteckend!
  • Behan­deln Sie jeden wie den wich­tigs­ten Men­schen auf der Welt!
  • Machen Sie ehr­li­che Komplimente!
  • Trei­ben Sie Sport!
  1. Klas­si­sche Rhe­to­rik (Spea­king with Aut­ho­ri­ty), Eti­ket­te und Zeit­ma­nage­ment. Ein Cha­ris­ma­ti­ker muss nicht nur ein guter Red­ner sein und in jeder Situa­ti­on wis­sen, wie er sich zu beneh­men hat. Er muss auch ein gewis­ses Maß an Selbst­dis­zi­plin besit­zen und immer wis­sen, wann Schluss ist. Und die­ser Schluss muss insze­niert sein. Fol­gen­des soll­te er kön­nen und muss es des­halb ste­tig (am bes­ten unter pro­fes­sio­nel­ler, kos­ten­pflich­ti­ger Anlei­tung) üben (ebd., 109ff. und 185ff.):
  • Haben Sie Lei­den­schaft für Ihr Thema!
  • Fas­sen Sie sich kurz!
  • Ver­mei­den Sie Stolperfallen!
  • Benut­zen Sie Memo­ry Jogger!
  • Prä­gen Sie sich den ›reason why‹ Ihrer Rede ein!
  • Las­sen Sie sich nicht ablenken!
  • Bau­en Sie sprach­li­che Pau­sen ein!
  • Nut­zen Sie Humor!
  • Schwä­cheln Sie am Ende nicht!

Und in Bezug auf das Zeitmanagement:

  • Ver­strö­men Sie Cha­ris­ma auch in vir­tu­el­len Kon­fe­ren­zen, indem Sie z.B. die Tele­kon­fe­renz pünkt­lich beginnen!

Alles das, was hier als Tech­ni­ken des Cha­ris­ma-Erwerbs vor­ge­stellt wur­de, sind bekann­te Metho­den und Ver­fah­ren, die man aus der Psy­cho­the­ra­pie, der Moti­va­ti­ons­psy­cho­lo­gie, der Sozi­al­päd­ago­gik und aus erwach­se­nen­päd­ago­gi­schen Fort- und Wei­ter­bil­dungs­ver­an­stal­tun­gen kennt. Was haben Sie mit Cha­ris­ma zu tun? Um dem auf die Spur zu kom­men, bie­tet es sich an, das Cha­ris­ma der Cha­ris­ma-Trai­ner mit dem Cha­ris­ma der Cha­ris­ma-Theo­rie Max Webers zu vergleichen.

 

2. Das Charisma-Konzept Max Webers

Der Begriff des Cha­ris­mas spielt im sozio­lo­gi­schen und natio­nal­öko­no­mi­schen Werk Max Webers eine bedeu­ten­de Rol­le. Weit über die Wis­sen­schaft hin­aus bekannt ist der in sei­ner Herr­schafts­so­zio­lo­gie ent­wi­ckel­te Begriff der cha­ris­ma­ti­schen Herr­schaft und des cha­ris­ma­ti­schen Füh­rers, aber auch in sei­ner Reli­gi­ons­so­zio­lo­gie nimmt Cha­ris­ma einen wich­ti­gen Platz ein, weil Weber den Ursprung aller Reli­gi­on in außer­all­täg­li­chen, cha­ris­ma­ti­schen Erfah­run­gen und deren Bewäl­ti­gungs­not­wen­dig­keit sieht (vgl. Gebhardt/Ebertz/Zingerle 1993).

Als Cha­ris­ma bezeich­net Max Weber im all­ge­meins­ten Sin­ne eine spe­zi­fi­sche, weil als außer­all­täg­lich gedach­te Kraft oder Zuständ­lich­keit, die bestimm­ten Gegen­stän­den, Ideen oder Per­so­nen zuge­spro­chen wird – und schließt damit an die ursprüng­li­che, pau­li­ni­sche Wort­be­deu­tung an, die Cha­ris­ma als (von Gott geschenk­te) ›Gna­den­ga­be‹ sieht. Sei­ne Außer­all­täg­lich­keit gewinnt das Cha­ris­ma allein dadurch, dass es immer nur ein­zel­ne, weni­ge, aus­ge­wähl­te Gegen­stän­de, Ideen oder Per­so­nen sind, die sie besit­zen, und dass sie nur in beson­de­ren, von Weber zumeist als extre­me Not­la­gen beschrie­be­nen Situa­tio­nen auf­tritt. Des­halb gilt die­se cha­ris­ma­ti­sche Kraft in Webers Wor­ten als das »nie Dage­we­se­ne«, »nicht jedem Zugäng­li­che«, »abso­lut Ein­zig­ar­ti­ge« und des­halb »Gött­li­che« (Weber 1976, 140 und 658). Die­se Kraft kon­sti­tu­iert dann eine sozia­le Bezie­hung, die allein auf der außer­all­täg­li­chen, gläu­bi­gen, frei­en, lei­den­schaft­li­chen und rein per­sön­li­chen Hin­ga­be bestimm­ter Men­schen an die Wun­der­kraft eines Gegen­stan­des oder an die Vor­bild­lich­keit oder Hel­den­kraft einer Per­son und, zumeist, aber nicht not­wen­dig damit ver­bun­den, an die Hei­lig­keit und Offen­ba­rung einer Idee oder Bot­schaft beruht. Fol­gen­de Merk­ma­le zeich­net die cha­ris­ma­ti­sche Herr­schaft nach Max Weber aus (vgl. Weber 1976, 654–681):

  • Cha­ris­ma­ti­sche Herr­schaft ist ein Phä­no­men des Glau­bens, kei­ne Eigen­schaft einer Per­son – auch wenn sie in der Regel an bestimm­te, aller­dings dif­fe­rie­ren kön­nen­de Per­sön­lich­keits­merk­ma­le gebun­den ist.
  • Cha­ris­ma­ti­sche Herr­schaft ver­langt von ihren Anhän­gern lei­den­schaft­li­che Hin­ga­be und Gehor­sam bis hin zur Opferbereitschaft.
  • Cha­ris­ma­ti­sche Herr­schaft hat eine spe­zi­fi­sche Sen­dungs­idee, die in der Regel die Über­win­dung der Lei­den der Gegen­wart und eine für alle bes­se­re Zukunft verspricht.
  • Cha­ris­ma­ti­sche Herr­schaft ist spe­zi­fisch wirt­schafts- und orga­ni­sa­ti­ons­fremd, basiert auf Will­kür und Spon­ta­nei­tät und finan­ziert sich aus Spen­den oder Beute.
  • Cha­ris­ma­ti­sche Herr­schaft ist die gro­ße revo­lu­tio­nä­re Macht in der Geschich­te, die Altes über­win­det und Neu­es schafft.
  • Cha­ris­ma­ti­sche Herr­schaft ist spe­zi­fisch labil, wes­halb jeder cha­ris­ma­ti­sche Auf­bruch einer Ver­all­täg­li­chung unter­liegt, das Cha­ris­ma also in die All­tags­for­men von Herr­schaft, die tra­di­tio­na­le und die lega­le Herr­schaft, not­wen­dig trans­for­miert wird.

Ver­gleicht man nun die Leh­ren der Cha­ris­ma-Trai­ner mit der Cha­ris­ma-Theo­rie Max Webers, so ist das Ergeb­nis ein­deu­tig. Obwohl sich ein­zel­ne der Rat­ge­ber-Autoren ab und zu auf Max Weber beru­fen, haben bei­de Kon­zep­te nichts gemein. Es gibt – viel­leicht auf den ers­ten Blick – eini­ge Berüh­rungs­punk­te wie zum Bei­spiel die, dass auch Cha­ris­ma-Trai­ner die Bedeu­tung einer Mis­si­ons­idee beto­nen. Schaut man aber genau­er hin, wird sofort deut­lich, dass nicht das Glei­che gemeint ist. Wäh­rend Weber mit einer Sen­dungs­idee eine gera­de revo­lu­tio­nä­re Umge­stal­tung der Wirk­lich­keit meint, sehen die Cha­ris­ma-Trai­ner dar­in in der Regel nichts ande­res als eine Stei­ge­rung bereits eta­blier­ter Leis­tun­gen. Cha­ris­ma ist bei Max Weber spe­zi­fisch wirtschafts‑, ratio­na­li­täts- und orga­ni­sa­ti­ons­fremd, das Cha­ris­ma der Cha­ris­ma-Trai­ner soll den Ratio­na­li­täts­grad, die Plan­bar­keit und Bere­chen­bar­keit ein­ge­spiel­ter Wirt­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen und Wirt­schafts­ab­läu­fe erhö­hen. Das Cha­ris­ma bei Max Weber ist spe­zi­fisch labil, das Cha­ris­ma der Cha­ris­ma-Trai­ner soll auf Dau­er gestell­ten Erfolg garan­tie­ren. Der ent­schei­den­de Unter­schied ist aber der fol­gen­de: Wäh­rend Max Weber – und in sei­nem Gefol­ge der Main­stream der heu­ti­gen Sozi­al­wis­sen­schaf­ten (vgl. Geb­hardt 1994, 24–33) – Cha­ris­ma als eine letzt­end­lich uner­gründ­ba­re ›Gna­den­ga­be‹ betrach­tet, sehen die Autoren der Rat­ge­ber dar­in etwas, das ratio­nal kon­stru­ier­bar, tech­nisch (durch Ver­fah­ren) her­stell­bar und des­halb für jeden erwerb­bar ist. Man kann es auch anders sagen: Wäh­rend die Cha­ris­ma-Trai­ner Cha­ris­ma für alle ver­spre­chen, ist Max Weber der Über­zeu­gung, dass, wenn alle Cha­ris­ma­ti­ker sind, es kei­nen Cha­ris­ma­ti­ker mehr geben kann.

 

3. Soft-Skills in charismatischer Verkleidung

Man kann also fest­hal­ten: Cha­ris­ma-Trai­ner ver­kau­fen nicht Cha­ris­ma (allein schon des­halb, weil Cha­ris­ma nicht ver­kauf­bar ist), son­dern etwas, das sie Cha­ris­ma nen­nen. Was aber ist die­ses Etwas?

Wie oben schon ange­deu­tet, sind die Rat­schlä­ge, Tipps, Metho­den und Tech­ni­ken, die in den Rat­ge­bern ange­prie­sen und in den Semi­na­ren ein­ge­setzt wer­den, alles ande­re als krea­tiv, neu und inno­va­tiv. Sie sind viel­mehr ein Sam­mel­su­ri­um schon lan­ge prak­ti­zier­ter Lern- und Prä­sen­ta­ti­ons­tech­ni­ken, die Fähig­kei­ten wie Pünkt­lich­keit, kla­re Arti­ku­la­ti­on, Selbst­be­herr­schung und Dis­zi­plin, kör­per­li­che Fit­ness und Sozi­al­kom­pe­tenz schu­len sol­len. Den­ken Sie nur an die vor­her genann­te Aus­sa­ge von Tony Ales­san­dra: Ver­strö­men Sie Cha­ris­ma auch in vir­tu­el­len Kon­fe­ren­zen, indem Sie z.B. die Tele­kon­fe­renz pünkt­lich begin­nen!  Cha­ris­ma-Gene­rie­rung durch Ein­hal­tung von tra­di­tio­nel­len Regeln und Nor­men wie Pünkt­lich­keit – Max Weber wür­de sich vor Lachen aus­schüt­ten. Ein ech­ter Cha­ris­ma­ti­ker ist nie pünkt­lich – auf ihn muss man war­ten. Das stei­gert die Erre­gung, die Vor­freu­de, die Erwar­tun­gen und ermög­licht erst so die enthu­si­as­ti­sche, bis hin zur Eksta­se sich stei­gern­de Hin­ga­be an das Außer­or­dent­li­che, Nie-Dage­we­se­ne und eben des­halb Gött­li­che, die eine cha­ris­ma­ti­sche Bezie­hung erst mög­lich macht.

Was in Cha­ris­ma-Semi­na­ren gelehrt wird und gelernt wer­den soll, sind nichts ande­res als mar­ke­ting­stra­te­gisch ›auf­ge­pepp­te‹ soft skills: Kom­mu­ni­ka­ti­ons­fä­hig­keit, Team­fä­hig­keit, Kar­rie­re-pla­nung, Ver­hand­lungs­tech­ni­ken, Kon­flikt­lö­sungs­me­tho­den, Zeit­ma­nage­ment, Prä­sen­ta­ti­ons­tech­ni­ken, Rhe­to­rik, Mode­ra­ti­ons­trai­ning etc. – alles Din­ge, die man braucht, um sich in einem Unter­neh­men (oder in einer Behör­de) nach ›oben‹ zu arbei­ten, alles Din­ge, die man braucht, um posi­tiv im Sin­ne der Unter­neh­mens­zie­le auf­zu­fal­len, alles Din­ge also, die man braucht, um gut zu funk­tio­nie­ren (vgl. Mül­ler 2009). Man kann sicher dar­über strei­ten, ob man das alles wirk­lich braucht, um Kar­rie­re zu machen, und wenn ja, ob man die­se Fähig­kei­ten in Semi­na­ren, unab­hän­gig von kon­kre­ten Inhal­ten und Sach­kom­pe­ten­zen, ler­nen kann. Aber selbst, wenn man der Über­zeu­gung ist, dass man es braucht und dass man es ler­nen kann, ver­bleibt die Fra­ge: Hat das irgend­et­was mit Cha­ris­ma zu tun? Die Ant­wort ist klar: Nein! Dann stellt sich wie­der­um die wei­ter­füh­ren­de Fra­ge: War­um wer­den die­se Fähig­kei­ten unter dem Eti­kett des Cha­ris­mas verkauft?

Indi­vi­dua­li­tät, Non­kon­for­mi­tät, Eigen­stän­dig­keit gel­ten unter den Bedin­gun­gen des glo­ba­len Kapi­ta­lis­mus (und des dar­aus abge­lei­te­ten Bolo­gna-Dik­tats) als ein Sys­tem­de­fi­zit. Aber das darf man heu­te nicht mehr sagen, ohne sofort des Defä­tis­mus gezie­hen zu wer­den (vgl. Zili­an 2000, Geb­hardt 2003). Somit müs­sen sie unter dem Titel der Selbst­ent­fal­tung, Selbst­op­ti­mie­rung, ja Selbst­er­mäch­ti­gung, noch bes­ser unter dem Titel des ›geheim­nis­um­wit­ter­ten‹ Cha­ris­mas in einen semi­nar­ge­ne­rier­ten Kon­for­mis­mus umge­ar­bei­tet wer­den. Indi­vi­dua­li­tät ist erwünscht und gilt gleich­zei­tig als gefähr­lich. Ein biss­chen anders sein, ein biss­chen aus dem Rah­men fal­len, aber ohne die Sys­tem­gren­zen in Fra­ge zu stel­len, das gilt als krea­tiv und inno­va­ti­ons­för­dernd. Oder wie einer der gegen­wär­ti­gen Stars der Moti­va­ti­ons­trai­ner, der Ame­ri­ka­ner Tony Rob­bins, markt­schreie­risch der Welt ver­kün­det: »Break the Rules, but not the Law!« (www.tonyrobbins.com). Denn: Wer nicht nur die Regeln, son­dern auch das Gesetz bricht, wer also all­zu anders ist, der ist gefähr­lich und des­halb fäl­lig für das Trai­ning. Die­ses besei­tigt, wie Man­fred Pri­sching sagt, den Affront der Nicht­an­ge­passt­heit, indem das beson­de­re Poten­ti­al des Ein­zel­nen geho­ben und er selbst zum modell­ge­rech­ten Men­schen zurecht­ge­schnitzt wird (vgl. Pri­sching 2003, 68f.). Per­so­nal­ent­wick­lung, so wie sie heu­te prak­ti­ziert wird, ist Anti-Indi­vi­dua­lis­mus unter dem Vor­wand, indi­vi­du­el­le Poten­tia­le mit­tels soft skills zu akti­vie­ren. Akti­viert aber wer­den Fähig­kei­ten, sich nach Tun­lich­keit einem Modell anzu­be­que­men. Dass dies unter dem Eti­kett des Cha­ris­mas geschieht, zählt zu den grund­le­gen­den Para­do­xien der Spät­mo­der­ne. Man könn­te aber auch sagen: Es gehört zu den bes­ten Trep­pen­wit­zen der Weltgeschichte.

 

Literatur

Ales­san­dra, Tony 1998: Cha­ris­ma – 7 Keys to Deve­lo­ping the Magne­tism that leads to Suc­cess. New York: Busi­ness Plus.

Beck, Ulrich 1986: Risi­ko­ge­sell­schaft. Auf dem Weg in eine ande­re Moder­ne. Frank­furt a.M.: Suhrkamp.

Beck, Ulrich (Hg.) 1997: Kin­der der Frei­heit, Frank­furt a.M.: Suhrkamp.

Geb­hardt, Win­fried 1986: Cha­ris­ma als Lebens­form. Zur Sozio­lo­gie des alter­na­ti­ven Lebens. Ber­lin: Reimer.

Geb­hardt, Win­fried 2003: ›Fach­men­schen ohne Geist, Genuß­men­schen ohne Herz‹. Über das Kar­rie­re­leit­bild des Machers. In: Ronald Hitzler/Michaela Pfa­den­hau­er (Hg.): Kar­rie­re­po­li­tik. Bei­trä­ge zur Rekon­struk­ti­on erfolgs­ori­en­tier­ten Han­delns. Opla­den: VS Ver­lag für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, 43–52.

Geb­hardt, Winfried/Ebertz, Micha­el N./Zingerle, Arnold (Hg.) 1993: Cha­ris­ma. Theo­rie – Poli­tik – Reli­gi­on. Berlin/New York: De Gruyter.

Gross, Peter 1994: Die Mul­ti­op­ti­ons­ge­sell­schaft. Frank­furt a.M.: Suhrkamp.

Mül­ler, Eva Bri­git­ta 2009: Cha­ris­ma­nia. Cha­ris­ma als ›Doping‹ für Per­sön­lich­keit und Kar­rie­re? Eine Unter­su­chung von sie­ben Cha­ris­ma-Rat­ge­bern. Diss. Uni­ver­si­tät Koblenz-Landau.

Pri­sching, Man­fred 2003: See­len­trai­ning. Über eine neue Dimen­si­on der Kar­rie­re­po­li­tik. In: Ronald Hitzler/Michaela Pfa­den­hau­er (Hg.): Kar­rie­re­po­li­tik. Bei­trä­ge zur Rekon­struk­ti­on erfolgs­ori­en­tier­ten Han­delns. Opla­den: VS Ver­lag für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, 53–70.

Pri­sching, Man­fred 2008: Bil­dungs­ideo­lo­gien. Ein zeit­dia­gnos­ti­scher Essay an der Schwel­le zur Wis­sens­ge­sell­schaft. Wies­ba­den: Sprin­ger VS.

Pri­sching, Man­fred 2009: Das Selbst. Die Mas­ke. Der Bluff. Über die Insze­nie­rung der eige­nen Per­son. Wien/Graz/Klagenfurt: Molden.

Weber, Max 1976: Wirt­schaft und Gesell­schaft. 5. Aufl. Tübin­gen: Mohr Siebeck.

Zili­an, Hans-Georg 2000: Tay­le­ris­mus der See­le. In: Öster­rei­chi­sche Zeit­schrift für Sozio­lo­gie 25, 75–97.

Online-Quellen

https://www.evabmueller.de/publikationen/, zuletzt abge­ru­fen am 14.06.19.

https://www.redeakademie.de/seminare/charisma-ausstrahlung/, zuletzt abge­ru­fen am 14.06.19.

https://www.tonyrobbins.com/, zuletzt abge­ru­fen am 14.06.19.