Grenze als ›Phänomen(on)‹
der großen Weite der Freiheit des Seins im Werden

Klaus Otte

 

1. »Grenze« in gesellschaftlich-politischer Erfahrung

»Grenze« wirkt sich für aus Existenzgefahr Fliehende anders aus als für in gewohnte Sicherheit Eingegrenzte. Grenzen sind sowohl die Zukunftsperspektive für die Freiheit Suchenden als auch die Selbstvergewisserung der an ihre Sicherheit gewohnten Begrenzten. Für zwei kontrastierende Probleme ein und dasselbe Wort!

Einmal reklamiert das Wort Zukunft und Freiheit, das andere Mal Bewahrung und Absicherung des Vorhandenen. Das Wort ›Grenze‹ birgt also eine korrelative, sich dem Sein nach ergänzende Dialektik in sich, die nicht einfach übersehen werden kann, sondern symptomatisch, irgendwie implizit, immer wirksam bleibt.

Das erweist sich dann, wenn ein kreativ verschmelzender Neubeginn erst durch die dynamische Grenzsituation oder in der Konfrontation echter Polaritäten einfließt. »Grenze« kann dabei zum Zeugungsakt eines inhaltlich Neuen aufgrund des aktuellen Grenzvorgangs und des vorhanden Unterschiedlichen werden. Das ist das eigentliche Grenzproblem, das real im allumfassenden Sein wesentlich verankert ist und eine ontologisch-dialektische Sicht übergreifender Raum- und Zeitbegriffe ermöglicht.

 

2. Biblische Beispiele für solche Ontologie

Alt- und neutestamentliche Beispiele bezeugen solche dreidimensionalen Denkmodelle, die wesentliche positionelle Veränderungen mit sich bringen.

2.1 Altes Testament (Jüdische Tradition)

Im AT ereignet sich ein wichtiger heilsgeschichtlicher Vollzug damaligen religiösen Seins am Grenzflüsschen Jabbok (Gen.32, 23ff.): Dort spielt sich nicht nur die Vorbereitung der geschwisterlichen Versöhnung zwischen den beiden Konkurrierenden Jakob und Esau ab, sondern die mystische Realität zwischen dem Unaussprechlichen und dem zweidimensional begrenzten Raumzeitlichen erscheint in der Morgenröte des neuen Tages und der immanent alles bedeutende Name Jakob (»Fersenhalter«), des zweitgeborenen Zwillings, ersteigt wie eine Siegestrophäe als neuer Name »Israel«: mit Gott gekämpft und am Leben geblieben (Gen.32, 31).

Der in Raum und Zeit sprachlich gefasste Ereignis-Ort wird von dem Überlebenden, der die im ›Grenzkampf‹ aktuell neu geschaffene Handels-Dimension ›Segen‹ erstritten und aufgerufen hat, »Pnuel« genannt: »Gott gesichtet, nicht genichtet, sondern aufgerichtet«. Das nächtliche Gegenüber des frisch ernannten ›Israel‹ hinterlässt seine Spuren durch einen Schlag auf die Hüfte des Befreiten und ermöglicht so die Einbindung in die legalistische raumzeitliche Traditionsbildung: Die Hüfte eines Speiseopfers wird tabu »bis in die Gegenwart, weil der Herr auf den Muskel der Hüfte Jakobs geschlagen hatte« (Gen.32, 33). So wuchs aus mystischer Tiefe eine Perikope zu einer jedweden gottesdienstlichen Vergegenwärtigung des Werdens des Unaussprechlichen heran und konnte ›eingereiht‹ werden in das allgemein kettenhaft ablaufende liturgische Religionsverfahren des institutionell im Tempel abgewickelten Gottesdienstes bis heute.

Bis in die Gegenwart des 21. Jahrhundert. kann die Möglichkeit solcher dreidimensionalen Grenzwirkung nicht ausgeschlossen oder gar bestritten werden: Grenze als Merkmal der Unterschiede, als ›Kampf‹-Platz der Gegner und zugleich Zeugungs- bzw. Geburtsgeschehen friedvoller Zukunft. Grenze als ontologisches Datum, das allem Sein implizit und verbal in raumzeitlicher Linguistik kaum genau zu fassen und zu diskutieren ist. ›Grenze› ist eben faktisch real ein dialektischer Grenzbegriff.

2.2 Neues Testament (Christlich-kirchliche Tradition)

Neutestamentliches Argumentieren und Denken setzen solches implizit ontologisch-dreidimensionale Vorgehen oft voraus, ohne dass es als sprachontologische Regiebemerkung besonders kenntlich gemacht würde, wie etwa die Reden in Gleichnissen, (Matth.13 par.) Glossolalie oder Prophetie eigens signalisiert werden (vgl. Kor.1, 1 und 3ff.). So sagt der entlaufene Erbe an der Grenze seiner Überlebensmöglichkeit nur, dass er zum Vater zurückkehren wird und die (freudige) Rückkehr mit ihm wahrnehmen und feiern will (Luk.12,11ff.).

Auf der Grenze zwischen dem religiös zerstrittenen israelischen Galiläa und dem schismatischen Samaria spielt sich nicht nur die von Lukas 17, 11ff. berichtete Heilungsgeschichte der zehn Aussätzigen und die Grundoffenbarung wahrer Religion im Gotteslob ab, sondern auch die messianische Enthüllung im Gespräch zwischen der Samaritanerin und dem Juden Jesus findet im Grenzgebiet statt (Joh.4, 1-42). Und schließlich auch: Auf dem Weg zwischen Jerusalem und Jericho erweist sich, dass ein rituell ausgegrenzter Samaritaner die Wahrheit Gottes eigentlich nicht nur lebt, sondern so anstößt, dass dieser Anstoß bis heute durch die Straßen der modernen technisierten Welt helfend fährt und tatkräftig mit akustischen Hoheitszeichen angekündigt wird (Luk.10, 29ff.).

Die hier ausgewählten Beispiele lassen jeweils auf ihre Weise die ontologische Dreidimensionalität erkennen, die sich auch in einer typischen dreigipfligen literarischen Darstellungsweise niederschlägt, deren jeweilige sprachliche Gipfelrouten aber nicht plakativ journalistisch ein Faktum nach dem anderen spannend berichten, sondern das Entscheidende unübersehbar pointiert in der dritten Dimension hervor scheinen lassen.

So dominiert in Lukas 17 nicht die heilsdramatische Wundertat, wie die Exegeten vermerken und für ihre die Betreffenden bewertende Deutung praktisch auswerten, sondern der metaphysische Erkenntnissprung, dass das Eigentliche in Sachen Religion nicht Gesetzesgehorsam und Tradition, sondern dankbare Erfahrung und eben Gotteslobpreis ist. »Rettender Glaube geschieht dort, wo Gott gelobt wird« (Klein 2006, 563). Indessen: Es geschieht im Grenzbereich zwischen unterschiedlichen Glaubensauffassungen »dia meson Samareias kai Galilaias« (»zwischen Samarien und Galiläa«, Luk.17, 11).

Das dialogische Hin-und-Her zwischen Jesus und der samaritanischen Frau in Johannes 4 ist keine hermeneutische Seminarstunde, sondern fast eine Liebesgeschichte auf der Grenze von zwei Aus- bzw. Eingegrenzten: Eine ›ausgegrenzte‹ Samaritanerin und ein ›eingegrenzter‹ jüdischer durstiger Jesus. Über ein Geplänkel bezüglich der Wasserversorgung, Brunnenrechte und anderer Existenzfragen kommen Rede und Widerrede immer mehr zu einem interkonfessionellen oder auch interreligiösen Dialog. Der ›inkarnierte Logos‹ (Joh.1, 1ff.) nimmt Gestalt an und durchbricht seine genealogische raumzeitliche Eingrenzung. Ob es sich bei den zur Sprache kommenden fünf Männern (Joh.4, 16ff.) um Ehepartner handelt oder um die einer ehelichen Bindung vergleichbaren religiöse Vereinigung, wie hebräisches Sprachdenken beim Verb ›jada‹ (erkennen, zeugen, sich vereinen etc.) nahelegen könnte, ist umstritten.

Die oben eingeführte ontologische ›Gipfelroute‹ zielt auf mehr als auf historistische Auflistung religiöser Ahnenreihen oder gar legalistisch gesellschaftliche Moral. Obwohl die Berge der Anbetung sich ›grenznah‹ gegenüberstehen und für Jesus seiner Abstammung nach das Heil von den Juden kommt, wird Gott der Vater inskünftig »im Geist und der Wahrheit« (Vers 24) im weiten Grenzgebiet angebetet.

Dem stellt die Samaritanerin das Wissen ihrer Herkunft und ihre Heilserwartung gegenüber: »Ich weiß, dass der Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn dieser kommt, wird er uns alles verkündigen.« Diese auch in der paulinisch ontologischen Theologie anklingende Erwartung (vgl. 2. Kor. 3,37) ist anscheinend ebenfalls samaritanisches Glaubensgut und stößt bei dem Nazarener Jesus auf sein eigenes Sendungsgeheimnis: »Der sich mit dir im Dialog befindet, ist es«, welcher erwartet wird (Joh.4, 26).

Heilswissen und Heilserwartung haben sich in diesem Augenblick der ›Erfahrung an der Grenze‹ bewahrheitet. Aus unterschiedlichen begrenzten Erwartungen und Glaubensgewissheiten realisiert sich das Heil und bewahrheitet sich in der greifbaren Tat und Handlung. Dieses dialektisch korrelative Symptom des Seins ist Erlösung und Freiheit, weil es den kreativ lebendigen Weg in die Zukunft von Seienden freisetzt, denen die Begrenztheit keine Enge mehr schaffen kann.

Die erfahrene Liebe Gottes in der Weite des alles durchwaltenden Seins drängt zum souveränen Handeln, wo es in der raumzeitlichen Situation erforderlich ist. Für streng jüdische Ohren erweist sich die weitherzige Barmherzigkeit des Samariters auf der Grenze zwischen Jerusalem und Jericho als Verstoß gegen das legalistisch gebotene Reiseverhalten, im Wort Jesu indessen als die tatsächliche Erfüllung des von Gott »Gesetzten« (Luk.10, 25-37). Heilbehandlung und Nachpflege für den Überfallenen sind für den Barmherzigen von Gott in diesem Augenblick geboten und eigentliche Gesetzerfüllung als Vollzug des Gebotenen – auch und gerade dann, wenn solche Erfüllung institutionell formulierte Gesetzlichkeit um der ewig freien Wahrheit der Schöpfung (Joh.8, 32) willen in die Grenzen weisen muss.

Dieser neutestamentliche quasi Rundumschlag zum Thema ›Grenze‹ erhellt den allem ontologisch vorgehenden Denken impliziten dreidimensionalen Vollzug des Seins. Nicht nur der einzelne Seins-Sprung bei einer einzelnen Begriffsbildung charakterisiert das ontologische Symptom, sondern ein perpetuierendes ständiges Seins-Springen mit raumzeitlich undefinierbar mystischer Offenheit macht die paradigmatische Reflexion von ›Grenze‹ aus. Eine Imponderabilie im permanenten Vollzug bringt das Sein in Bewegung, welche sich als kontinuierliches Schöpfungs- und Erhaltungsgeschehen nachvollziehen lässt und letztlich auch wissenschaftsgeschichtlich gesehen wirksam lebendige Wissenschaft erzeugt.

 

3. Die »Grenze« zwischen dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse und dem Baum des Lebens – und die aufgehobene »Grenze zum edlen Paradeis« zwischen Kreuz und Auferstehung

Die für modernes Sprachverständnis bewertenden Kennzeichnungen »(sehr) gut und böse« (Gen.1, 10, 12, 18, 21, 25, 31) scheinen, sowohl im priesterschriftlichen späteren, als auch im jahwistischen früheren Schöpfungsbericht eher die in Raum und Zeit messbaren und quantitativ erfassbaren kreativen Symptome bezeichnen zu wollen: Sie »geben Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre« (Gen.1, 14). Dem solistischen Einzelwesen gesellt Jahwe typischerweise ein zweites geschaffenes Einzelwesen hinzu, das zwar aus Adams Rippe während dessen wiederum geheimnisvollen Tiefschlafes gemacht wird, aber laut Schöpfungsbericht unter ein letztlich unverzichtbares Gebot fällt: »Rühret die Früchte des Baumes der Erkenntnis von ›gut‹ und ›böse‹ nicht an, dass ihr nicht sterbet!« Solche Erkenntnis beinhaltet die dreidimensionale reale Wahrheit, die paradiesisch vom Menschen nicht enthüllt und ausgewertet werden sollte, weil sie den ›Grenzvorbehalt‹ göttlicher Schöpfung antastet, obwohl sie im Rahmen der Paradieswirklichkeit nicht fehlen kann.

Da diese implizite Geheimwahrheit aber durch die List der Schlange und ihre reale symbolische Bedeutungswirklichkeit doch entfesselt wurde, ergibt sich die Notwendigkeit eines neuen Gebotes: »Der Mensch soll nicht vom Baum des Lebens brechen und ewiglich leben«, weil er dann tatsächlich in Wirkung und Unbegrenztheit Gott gleich wäre. Der Mensch als Mann und Frau machte mit seinen Kenntnissen und Fähigkeiten einen göttlichen Schöpfer entbehrlich, was aller empirischen Welterfahrung und bisherigen ontologischen Disposition widerspräche.

Eine Umdisponierung der kreativ ewig absoluten Urenergie erweist sich als notwendig: Gottes Souveränität kann nicht durch eine gesetzlich zu schützende Konfrontierung gesichert und bewahr(heite)t werden, sondern der Souveräne kommt in und mit seiner Position dem Gefährdenden immer schon zuvor. Durch die Menschwerdung bzw. die Herausstellung der dreidimensionalen ontologischen Position des Schöpfers in der ›Opferung‹ des Sohnes bleibt Gott ewig der zuerst Handelnde. Nicht der einzelne ›Seinssprung‹ in der metaphysisch orientierten Philosophie zeigt sich als angemessen, sondern das ewige ›Seinsspringen‹ göttlicher ontologischer Position garantiert dem ›Turnier-Partner‹ Mensch: »Heut schleust er wieder auf die Tür zum edlen Paradeis, der Cherub steht nicht mehr dafür, Gott sei Lob, Ehr’ und Preis!«

So tritt die Selbstopferung Jesu Christi aus dem Schatten des Kreuzesleidens heraus in das erhellende Licht der real stets neu geschehenden Auferstehung in Ermutigung und Aufbruch. Das neue Sein erweist sich in der aktuellen Grenz-Position, die mit dem Positionierten augenblicklich spricht: »Ego eimi o lalon soi!« (»Der mit dir im Dialog ist, ich bin es«, Joh.4, 26) – auf der ›Grenze‹ zusammen mit dem Dialogpartner – und dieser war ein linkischer Fersenhalter, ein schismatischer Samaritaner, ein Sicherheitsverteidiger oder (umherirrender vgl. auch Deut.5,26ff.) Flüchtling, er »ist« ein Andersgläubiger oder gar Atheist oder…

 

Literatur

Klein, Hans 2006: Das Lukasevangelium. In: Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament. Begr. v. Heinrich August Wilhelm Meier, hg. v. Dietrich-Alex Koch, Band III, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 563.