Die Entzauberung des Stachelschweins – eine tragisch-integrierte multimodale religions-tier-linguistische Erzählung

Pamela Steen (Text) und Carolin Schwegler (Illustrationen)


Fakir Franz machte es sich auf seinem Kissen bequem und quiekte. Er quiekte wie ein Stachelschwein, eben wie eines, das die Beine von sich streckte, nachdem es einen Kürbis in kleinen, hektischen Bissen heruntergeschlungen hatte. Danach rülpste er. Das durfte er. Denn er war jetzt ein heiliges Stachelschwein. Und jegliche seiner Lebensäußerungen wurde angebetet.

Eigentlich hieß das heilige Stachelschwein gar nicht Fakir Franz, sondern Baby Müller. Eine deutsche Familie auf Safari-Tour in Afrika hatte es adoptiert, durch den Zoll geschmuggelt und seitdem lebte es als jüngstes Kind von Barbara und Karl-Heinz Müller in einem Reihenhaus mit Garten in Koblenz. Weil es so niedlich aussah, auch jetzt noch, da es ausgewachsen war, hatte man das Stachelschwein »Baby« genannt. Und die Menschen sprachen in einer eigens für ihn kreierten Sprache zu ihm, die Sprachwissenschaftler/innen als »Baby-Sprache« bezeichneten. Mit ganz hoher Stimme sagten sie dann zu ihm »Ei dei dei, du kleiner Schnuckiputz«. Baby Müller verstand keine dieser Äußerungen, aber es klang fast so wie sein eigenes aufgeregtes Quieken, wenn er mal wieder mit Kürbis gefüttert wurde. Er wurde geliebt, er war rundum glücklich.

Doch diese Mensch-Tier-Idylle aus wechselseitiger Resonanz fand ein jähes Ende: Ein Nachbar der Müllers hatte behauptet, Baby Müller würde, wenn er nachmittags allein durch den Garten streifte, geheimnisvolle, bedeutungsschwangere Botschaften quieken. Vom nahen Weltuntergang wäre hin und wieder die Rede, meistens aber einfach nur von einem referenzlosen – und gerade deshalb so geheimnisvollen – Leben, ganz mit sich und der Natur im Reinen. Der Nachbar, der sich selbst das fischige Akronym HAI als Kurzname kreiert hatte (er hieß mit vollem Namen Hermann Amadeus Ippelheim), gab Baby Müller den Namen »Fakir Franz«. Erstens, weil er eine Vorliebe für Alliterationen hatte, und zweitens behauptete der HAI, dass er es wissen müsste, weil er Professor für Religions-Tier-Linguistik an der hiesigen Universität wäre – was ihm natürlich niemand glaubte, denn was sollte das schon sein, Religions-Tier-Linguistik? Für alle, die sich ein wenig mit Sprachwissenschaft auskannten, klang das nach einer Forschungsrichtung weit jenseits aller Grenzen der Pragmatik. Deshalb verstand auch niemand den HAI, wenn dieser in seiner Fachsprache über Fakir Franz redete: »Der Name Fakir Franz ist eine synkretistische Konstruktion aus indischen und katholischen Einflüssen, die symbolisiert, dass das Stachelschwein ein Vertreter des Transzendentalen Ichlosen Embodiment mit Response-Resonanz – kurz TIER – ist. Und genau das macht ihn zu einem heiligen Stachelschwein.«

Die Müllers erklärten sich dieses Geschwafel folgendermaßen: Der meint wohl, dass Baby quasi sein eigenes Nagelbrett ist, und damit also Fakir und Brett in einem, und dass das zu besonders starken stechenden Schmerzen führt. Weil sie sich Sorgen um Baby machten, gaben sie ihn in die Obhut des HAIs, ohne zu wissen, wohin das führen würde.

Seit der HAI das heilige Stachelschwein zu seinem Forschungsobjekt erkoren hatte und regelmäßig Vorträge über die Grenzen der Pragmatik hielt, kamen immer mehr Pilger, machten dem Stachelschwein ihre Aufwartung und wollten von ihm wissen, wie man ein »ichloses Sein« erreichte, das er offenbar als stacheliger Lehrmeister perfektioniert hatte. Baby Müller alias Fakir Franz wusste nicht, was er auf diese Fragen antworten sollte, aß einfach die Kürbisse, die sie ihm als Geschenk brachten, lehnte sich mit vollem Bauch zurück, lächelte satt und zufrieden und schloss langsam die Augen. Dabei wippte er manchmal etwas vor und zurück, weil das die Verdauung anregte und es sich so leichter pupsen ließ. (Dass er mit diesen stereotypen Bewegungen aus Versehen ›echte‹ spirituelle Lehrer imitierte, konnte er nicht wissen…) Erst dann war er so richtig frei und gelöst und konnte alles um sich herum vergessen. Und wenn er dann so dasaß, ganz in sich versunken, zeigten alle auf ihn und wollten so sein wie er.

So kam es aber, dass Baby Müller schon bald berühmt wurde. Wenige Wochen nach der Entdeckung durch den HAI hatte Fakir Franz seinen eigenen Youtube-Kanal, auf dem er heilige Quiekgeräusche von sich gab, eine eigene Facebook-Fan-Gemeinde und hatte er Mr. Pokee, den niedlichen Igel, an der Spitze der bekanntesten Petfluencer abgelöst. Auch auf andere spirituelle Lehrer machte Fakir Franz mächtig Eindruck. So verkündete der berühmte Meister Eckhart Tolle, der bis dahin noch vehement das ›Leben im Jetzt‹ propagiert hatte, er wünschte, er könnte in der Zeit zurückreisen, um der Geburt des heiligen Stachelschweins mit Kürbisgaben beizuwohnen. Bei all diesem Ruhm und Trubel um seine Person vergaß Fakir Franz, dass er einmal ein ganz normales Stachelschwein gewesen war… und schnappte nicht mehr nur nach jedem Kürbis, den man ihm reichte, sondern auch über. Ständig war sein Kopf angefüllt von den vielen menschlichen Stimmen, die ihr ›Ich‹ loswerden wollten, die ihm immerzu Fragen stellten, die wissen wollten, ob seine Stachel denn auch von innen schmerzten und ob er das stachelige Kreuz gern trüge.

Da, wo einmal Stille und Frieden gewesen waren, waren nun Chaos und Verzweiflung. Fakir Franz hatte vergessen, wie es war, kein ›Ich‹ zu haben, weil seine Gedanken nun immerzu darum kreisten, wie man sein ›Ich‹ loswurde. Und auch der HAI war ihm keine Hilfe, weil der nur immer wiederholte: »Du bist ein TIER, ein TIER!« Was auch immer das bedeuten sollte, Fakir Franz wusste es nicht. Weinend und verzweifelt lief er eines Tages zum Moselstrand, schon im Begriff, sich in die Fluten zu stürzen. Da tauchte plötzlich… ein weißer WAL aus den Wellen empor.

Fakir Franz wusste sofort, das war der weise weiße WAL, von dem es so viele Legenden gab. Der WAL musste wohl schon 60 Jahre alt sein, aber kaum einer hatte ihn in den letzten Jahren zu Gesicht bekommen, weil er zu beschäftigt gewesen war. Der WAL hatte schon alles gesehen. Und er wusste auch alles. Die Mosel aber war seine WAL-Heimat, und er hatte hier viele WAL-Verwandtschaften, weshalb er nicht ins weite Meer hinausschwamm, obwohl er es gekonnt hätte.

Als er das Stachelschwein weinend am Moselufer erblickte, ließ sich der WAL majestätisch an Land spülen, öffnete sein Maul und spuckte ein Blatt Papier aus, das Fakir Franz geradewegs vor die Krallen wehte: Welch eine »Dynamik der Vermittlung«! Fakir Franz spürte, dass jetzt etwas ganz Wunderbares mit ihm passierte, dass er großes Glück hatte und dass sein Leben doch noch eine hoffnungsfrohe Wendung erfahren würde, da er nun einen AnWALt hatte, der ihm half. Mit zittrigen Krallen faltete er das Papier auseinander und fand darauf eine Literaturliste, die noch viel mehr Angaben aufwies, als der WAL Jahre zählte. Fakir Franz war tief beeindruckt. Und er beschloss, alle Texte auf der Liste zu lesen und von ihnen zu lernen.

Zunächst las er einige Schriften zur »Selbstermächtigung« und dachte bei sich: »Wenn ich jetzt schon ein ›Ich‹ habe, dann wäre es auch gut, sich damit auch zu ermächtigen.« Also machte sich Fakir Franz auf den Weg zur Universität. Mit dem Text zur »Grammatik des Zeigens« in den Krallen ließ er sich das Büro vom HAI zeigen und zeigte dem Scharlatan hinterher selbst, wo der Ausgang war. Seine Stacheln halfen ihm durchaus bei dieser Selbstermächtigung. Damit übernahm er dessen Lehrstuhl und wurde mit Hilfe der WAL-Literaturliste nach kurzer Zeit ein anerkannter Professor.

Professor Fakirs wichtigste Lehr-Methode, die weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt wurde, war »Mit Bildern Wissenschaft vermitteln«, indem er meist lustige Tiervideos zeigte und kommentierend dazu quiekte. Die Studierenden liebten es! Die meisten Leute, die sich bis dahin noch fragten: »Kann Wissenschaftsberichterstattung unterhaltsam sein?« antworteten nun mit einem klaren »Ja«! Denn alles, was in den Medien über Prof. Fakir berichtet wurde, war einfach nur komisch!

Zudem hatte er so viel Einfluss und Bekanntheit, dass sich völlig neue »Metaphernbereiche in der deutschen Alltagssprache« auftaten. Sobald jemand, dem man es eigentlich nicht zutraute, Karriere machte, hieß es ab sofort: Der hat voll einen auf Stachelschwein gemacht. Der Ausdruck »Stachelschwein« wurde gar zu einem »Schlüsselwort« im wissenschaftlichen Diskurs – so wichtig war seine Forschung geworden.

Leider wurde Professor Fakir nicht sehr alt – so alt, wie Stachelschweine eben werden können. Auch seine Selbstermächtigung war letztlich wie jedes Leben nur eine »Flüchtige Autonomie« gewesen. Sein ganzes kurzes Leben lang war er zerrissen gewesen zwischen einer »Gegenwärtigkeit und Fremdheit«, die eine nur schwer zu ertragende innere Anspannung ausgelöst hatte. Als er aber schließlich an seinem Schreibtisch sitzend zum letzten Mal quiekte, war dieser Quieker wieder ganz erfüllt von einem referenzlosen – und gerade deshalb so geheimnisvollen – Leben, ganz mit sich und der Natur im Reinen. Sein kleiner Kopf fiel sanft auf die letzte Abhandlung, die er vom WAL gelesen hatte: »Können wir mit Engeln sprechen?« Und Baby Müller lächelte.