Joseph Breitbach und die politische Literatur

Ste­fan Neuhaus

 

1. Vorbemerkung

Als ich im Juli 2003 im Künst­ler­haus Vil­la Con­cor­dia in Bam­berg einen Vor­trag zu Joseph Breit­bach hielt,1 der auch in einer klei­nen Rei­he des Künst­ler­hau­ses ver­öf­fent­licht wur­de (sehr schön anzu­se­hen, aber als wis­sen­schaft­li­che Publi­ka­ti­on prak­tisch unauf­find­bar und ohne Fol­gen in der For­schung) (vgl. Neu­haus 2004), ahn­te ich nicht, dass ich ein Jahr­zehnt spä­ter einen Ruf an den Cam­pus einer Uni­ver­si­tät in Breit­bachs Geburts­ort Koblenz erhal­ten und auch anneh­men wür­de, mit ver­schie­dens­ten Kon­se­quen­zen, dar­un­ter der des Beginns einer Kol­le­gen- und Freund­schaft mit Wolf-Andre­as Lie­bert, der sich (kei­nes­falls nur, aber eben auch) für die poli­ti­schen Schrift­stel­ler sei­ner Wahl­hei­mat inter­es­siert, ein Inter­es­se, das sogar in Ver­an­stal­tun­gen mün­det – am 23. Mai 2019 bei­spiels­wei­se mit einer Ver­an­stal­tung in der Stadt­bi­blio­thek zu einem ande­ren und älte­ren berühm­ten Sohn der Stadt, zu Joseph Görres.

Eini­ge Aspek­te mei­nes Auf­sat­zes zu dem am 20. Sep­tem­ber 1903 in Ehren­breit­stein, das spä­ter zu einem Orts­teil von Koblenz wer­den soll­te, gebo­re­nen und am 9. Mai 1980 in Mün­chen gestor­be­nen Joseph Breit­bach möch­te ich kurz zusam­men­fas­sen und dann noch ein­mal den Bogen zurück schlagen.

 

2. Das Politische in Genosse Veygond (1970)

Joseph Breit­bachs Tex­te zei­gen, dass die Psy­cho­lo­gi­sie­rung und die Pri­vat­heit der Figu­ren nicht zu tren­nen sind von den im wei­te­ren wie auch im enge­ren Sinn poli­ti­schen Rah­men­be­din­gun­gen, in denen sie funk­tio­nie­ren müs­sen. Die von der Lite­ra­tur ange­sto­ße­ne Refle­xi­on über sol­che Bedin­gun­gen kann man mit Judith But­ler als – um einen wich­ti­gen Begriff der For­schung von Wolf-Andre­as Lie­bert auf­zu­grei­fen – ›Selbst­er­mäch­ti­gung‹2 und als Grund­la­ge ethi­schen Han­delns sehen:

Wenn das ›Ich‹ nicht mit den mora­li­schen Nor­men zusam­men­fällt, die es aus­han­delt, wenn es sie nicht als ein Aprio­ri der Exis­tenz vor­fin­det, so heißt das nur, dass es über die­se Nor­men nach­den­ken muss und dass die­se Über­le­gun­gen auch zu einer kri­ti­schen Ein­sicht in deren gesell­schaft­li­che Gene­se und Bedeu­tung füh­ren. In die­sem Sin­ne sind ethi­sche Über­le­gung und Kri­tik mit­ein­an­der ver­knüpft (But­ler 2003, 20f.).

An einem weni­ger bekann­ten Bei­spiel möch­te ich ver­su­chen, dies zu zei­gen. Zu Joseph Breit­bachs Komö­die Genos­se Vey­gond von 1970 (1969 als Büh­nen­ma­nu­skript erschie­nen) gibt es eine Neu­fas­sung von 1971; ich möch­te mich auf die ers­te, fünf­ak­ti­ge Fas­sung beschrän­ken. Wie in Breit­bachs berühm­tem Roman Bericht über Bru­no (von 1962) wird auch in der Komö­die Genos­se Vey­gond die Aus­ein­an­der­set­zung mit poli­ti­schen Ideen hand­lungs­tra­gend. Der fran­zö­si­sche Autor Guy Vey­gond lebt aus­ge­zeich­net von sei­nen mar­xis­tisch inspi­rier­ten Dra­men und ande­ren Schrif­ten. Am Abend vor einem Istan­bul-Urlaub, den der 60jährige mit der Nich­te sei­ner Frau, der 16jährigen Leon­ti­ne Len­fer­te, in amou­rö­ser Absicht unter­neh­men will, besu­chen er und Leon­ti­ne die fünf­zigs­te Auf­füh­rung eines sei­ner Stü­cke. Eine klei­ne Grup­pe jun­ger, idea­lis­ti­scher Mar­xis­ten hat sich vor­ge­nom­men, den rei­chen Genos­sen um sein Geld zu erleich­tern. Sie hal­ten ihn, Leon­ti­ne und des Autors eben­falls her­bei­ge­lock­te Frau Olga hin­ter der Büh­ne gefan­gen und ver­lan­gen, dass Vey­gond Doku­men­te unter­zeich­net, die eine »Sozia­li­sie­rung« sei­ner Ein­nah­men wie der »Gewin­ne« sei­nes Ver­le­gers ermög­li­chen (B 28).3

Im Lau­fe der Gei­sel­haft kehrt sich das Ver­hält­nis zwi­schen Tätern und Opfern lang­sam um, es zeigt sich, dass Arthu­re und sei­ne Jungs der Auf­ga­be nicht gewach­sen sind. Da sie kei­ne Gewalt anwen­den wol­len, hal­ten die Vey­gonds sie ein­fach hin und machen sich schließ­lich sogar über sie lus­tig. Der­weil hat sich der jun­ge Set­zer Emi­le, einer der Mar­xis­ten­trup­pe, mit Leon­ti­ne mehr als ange­freun­det. Emi­le sieht nur einen Aus­weg, um aus der ver­fah­re­nen Situa­ti­on her­aus­zu­kom­men – er holt Charles, den Depar­te­ments­lei­ter der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei. Charles hat die nöti­ge Auto­ri­tät, um die über­eif­ri­gen Mar­xis­ten in die Schran­ken zu wei­sen und die Vey­gonds von ihrer mög­li­chen Rache abzu­hal­ten. Olga, die ihren Mann eben­so betrügt wie er sie, nimmt aller­dings die Mög­lich­keit wahr, die Gei­sel­haft in einen Gewinn umzu­mün­zen. Für ihr Schwei­gen ver­langt sie von Charles,

[…] daß Vey­gonds sech­zigs­ter Geburts­tag über­all mit Auf­füh­run­gen gefei­ert wird. Aber nicht sei­ner jüngs­ten Stü­cke, son­dern sei­ner frü­hen. In jeder grö­ße­ren Stadt soll die Par­tei das Thea­ter fül­len und Wie­der­ho­lun­gen erzwin­gen. Vey­gonds Sech­zigs­ter muß so groß wie mög­lich auf­ge­zo­gen wer­den (B 84).

Das Hap­py-Ending des Stücks, das erkenn­bar in der Tra­di­ti­on der Tra­gi­ko­mö­di­en der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit steht – man den­ke an Fried­rich Dür­ren­matts Der Besuch der alten Dame (1956) –, ist nur ein schein­ba­res, es ist ambi­va­lent und offen. Der Leser oder Zuschau­er erfährt nicht, ob Vey­gond selbst etwas aus der Erfah­rung gelernt hat, auch wenn sei­ne letz­ten Wor­te dies anzu­deu­ten schei­nen (B 89). Dahin­ge­stellt bleibt zudem, was mit den Ton­band­auf­zeich­nun­gen der Ver­hö­re Vey­gonds geschieht, die Emi­le an sich genom­men hat. Es kann durch­aus sein, dass ›Genos­se Vey­gond‹ doch noch für sei­ne Kar­rie­re auf Kos­ten der klei­nen Leu­te bezah­len muss.

Posi­tiv kon­no­tiert wird, dass Emi­le und Leon­ti­ne zusam­men­blei­ben wol­len; ihre Bezie­hung bekommt damit uto­pi­schen Cha­rak­ter, sie steht für die Hoff­nung auf eine bes­se­re Gesell­schaft. Die Mar­xis­ten, das wird sehr deut­lich, sind dafür aller­dings kei­ne Garan­ten. Auch nicht die Schrift­stel­ler, mit deren Rol­le sich das Stück hier selbst­re­fe­ren­ti­ell und (selbst-)kritisch aus­ein­an­der­setzt. Der Blick hin­ter die Kulis­sen des Thea­ters wird zum Blick hin­ter die Fas­sa­de poli­ti­schen Han­delns. Der Mensch auf der poli­ti­schen Büh­ne ent­puppt sich als Kar­rie­rist und Stra­te­ge, dem die poli­ti­schen Ideen sei­ner Par­tei im Prin­zip gleich­gül­tig sind. Inso­fern ist der Titel des Stücks sehr tref­fend: Es han­delt von Vey­gond, so wie der Bericht über Bru­no von Bru­no han­delt, auch wenn ande­re Figu­ren zeit­wei­se im Vor­der­grund ste­hen. ›Genos­se‹ ist for­mal kor­rekt, lässt sich vor dem Hin­ter­grund der Hand­lung des Stücks aber nur als iro­ni­sche Bezeich­nung lesen.

Bereits am Anfang fin­den sich Hin­wei­se, dass Vey­gond alles ande­re als ein idea­ler Genos­se ist, die Regie­an­wei­sung der ers­ten Sze­ne beginnt wie folgt: »Man hört durch den schon mage­ren Bei­fall einer abeb­ben­den Ova­ti­on schril­le Bra­vo­ru­fe einer weib­li­chen Stim­me« (B 11). Vey­gond geht immer wie­der hin­aus. Zusam­men mit sei­ner klei­nen Freun­din Leon­ti­ne, die ihm auch dar­in zu Wil­len sein muss, erzwingt er den andau­ern­den Bei­fall des Publi­kums. Arthur ent­deckt spä­ter ein Exem­plar des auf­ge­führ­ten Stücks in Leon­ti­nes Gepäck, in dem der Autor »die Stel­len ange­stri­chen« hat, »an denen sie klat­schen soll­te« (B 28).

Auf die Büh­nen­ar­bei­ter nimmt Vey­gond kei­ner­lei Rück­sicht. Arthu­re wirft ihm bei­spiels­wei­se vor, dass er ihnen »ein Fäß­chen Beau­jo­lais« oder einen »Kas­ten Bier« hät­te spen­die­ren kön­nen (B 12). In der letz­ten Sze­ne des Stücks wird dies noch ein­mal the­ma­ti­siert. Leon­ti­ne hält Vey­gond sei­nen Geiz vor: »Hät­test Du den Büh­nen­ar­bei­tern einen Kas­ten Bier gestif­tet, dann wären die noch dage­we­sen, als ich kam. Und Arthu­re hät­te Dich nicht kid­nap­pen kön­nen. Vey­gond Und Emi­le nicht Dich. Leon­ti­ne Ja, ja. Für Dich ist das ein teu­rer Kas­ten Bier gewor­den« (B 89).

Breit­bach hat auch von Brecht gelernt, das zeigt er nicht nur durch ein Mot­to, das er dem Stück vor­an­ge­stellt hat. Dras­ti­sche Mit­tel der Illu­si­ons­durch­bre­chung gibt es nicht, dafür wird eine meta­fik­tio­na­le Ebe­ne ein­ge­zo­gen. Wenn Vey­gond sagt: »Hört zu: Schluß mit der Komö­die…« (B 28), dann ist das ein Signal für den Zuschau­er, über das Gese­he­ne als Stück zu reflek­tie­ren. Auf Vey­gonds Bemer­kung hin lachen sei­ne Bewa­cher – ein Hin­weis auf die Form der poli­ti­schen Komik in die­sem Stück. Die Komik ergibt sich aus der Dis­kre­panz von Aus­sa­ge und Inhalt, von Schein und Sein.

Im 5. Akt nimmt Emi­le, mit dem Aus­gang der Akti­on unzu­frie­den, die Ton­band­auf­zeich­nun­gen der Ver­hö­re Vey­gonds mit und erklärt zu ihrer Ver­wen­dung, er wer­de sich »[…] einen bes­se­ren Schluß aus­den­ken für die­se Komö­die. Daß die Schuf­te alle mit hei­ler Haut davon­kom­men, so gut durf­te das nicht aus­ge­hen« (B 87). Inso­fern ist das offe­ne Ende eine Auf­for­de­rung an die Leser oder Zuschau­er, die ›Schuf­te‹ in der Rea­li­tät zu iden­ti­fi­zie­ren und ihnen das Hand­werk zu legen.

 

3. Voraussetzungen politischen Handelns

Für die Aktua­li­tät von Breit­bachs Tex­ten – nur einer konn­te hier exem­pla­risch vor­ge­stellt wer­den – las­sen sich meh­re­re Argu­men­te anfüh­ren. Die Figu­ren haben sich mit ihrer brü­chi­gen Iden­ti­tät in dem poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Dis­kurs der Zeit zu behaup­ten, dafür ent­wi­ckeln sie ver­schie­de­ne Stra­te­gien. Die Dar­stel­lung des Sub­jekts und sei­ner Bedingt­hei­ten ist zugleich Ana­ly­se sol­cher Bedingt­hei­ten und Auf­for­de­rung an den Leser, der Ver­such, ihn zur Refle­xi­on über die Mög­lich­kei­ten und Bedin­gun­gen ethi­schen Han­delns anzuregen.

Somit kön­nen Breit­bachs Tex­te, wenn sie denn gele­sen wer­den, eine wich­ti­ge gesell­schaft­li­che Funk­ti­on erfül­len: Ohne auf Refle­xi­on gegrün­de­tes ethi­sches Han­deln mög­lichst vie­ler Men­schen kann es kei­ne Demo­kra­tie geben.

Breit­bach selbst hat die­sen Impe­tus sei­nes Schrei­bens in einem Brief an Mar­cel Reich-Rani­cki vom 25. Mai 1973 thematisiert:

Kei­ner weiß, daß das epi­sche Bett, in dem sich so gut schla­fen läßt, ihn nie­mals ohne mora­li­sche und intel­lek­tu­el­le Anstren­gung dazu kom­men läßt, die Ver­lo­gen­hei­ten zu erken­nen, von denen jeder mit­ge­prägt ist, die der Zwang des hei­mat­li­chen Zusam­men­le­bens in jeder Denk- und Fühl­ge­mein­schaft erzeugt […] (zit. n. Hie­ber 2000, 73).

Inso­fern muss man Breit­bach zustim­men, wenn er sich spä­ter (am 31. Janu­ar 1979) bei Reich-Rani­cki dar­über beschwert, dass der ihn »bei Cock­tails und ande­ren Gesell­schaf­ten einen Mann« genannt habe, »der ›über­haupt kein Schrift­stel­ler ist‹« (ebd., 82). Wenn man einen wei­ten Poli­tik­be­griff zugrun­de legt, dann ist Lite­ra­tur immer poli­tisch und gute Lite­ra­tur steht immer quer zu den poli­ti­schen Ver­hält­nis­sen ihrer Zeit, mal auf eher offen­sicht­li­che und mal auf sub­ti­le­re Wei­se (vgl. auch Neuhaus/Nover 2019). Dies vor­aus­ge­setzt, ver­kör­pert Joseph Breit­bach einen Schrift­stel­ler­ty­pus, der, jeder Blick in die Zei­tung belegt es, im öffent­li­chen Dis­kurs gut gebraucht wer­den könnte.

Wolf-Andre­as Lie­bert wie­der­um – mit sei­nem Enga­ge­ment etwa im Rah­men der Koblen­zer Wochen der Demo­kra­tie – ver­kör­pert einen Wis­sen­schaft­ler­ty­pus, der im öffent­li­chen Dis­kurs gebraucht wird und dem es aus Anlass sei­nes run­den Geburts­tags für sein Enga­ge­ment Dank und Aner­ken­nung abzu­stat­ten gilt!

 

Literatur

Breit­bach, Joseph 1970: Genos­se Vey­gond. Komö­die in fünf Akten. Frankfurt/Main: Insel.

But­ler, Judith 2003: Kri­tik der ethi­schen Gewalt. Ador­no-Vor­le­sun­gen 2002. Aus dem Eng­li­schen von Rei­ner Ansén. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Hie­ber, Jochen (Hg.) 2000: »Lie­ber Mar­cel«: Brie­fe an Reich-Rani­cki. 2., erw. Aufl. Stuttgart/München: Deut­sche Ver­lags-Anstalt 2000.

Neu­haus, Ste­fan 2004: Bericht über Vey­gond. Joseph Breit­bachs Polit-Komö­di­en. In: Bernd Goldmann/Wulf Sege­brecht (Hg.): Joseph-Breit­bach-Sym­po­si­um. 17. und 18. Juli 2003 in der Vil­la Con­cor­dia, Bam­berg. Bam­berg: Ver­lag Frän­ki­scher Tag (= Edi­ti­on Vil­la Con­cor­dia. Bam­ber­ger Punk­te 10), 68–80.

Neu­haus, Stefan/Nover, Imma­nu­el (Hg.) 2019: Das Poli­ti­sche in der Lite­ra­tur der Gegen­wart. Berlin/Boston: De Gruy­ter (= Gegen­warts­li­te­ra­tur – Autoren und Debatten).

 

Online-Quelle

https://www.uni-koblenz.de/~selbst/drupal/index.html, zuletzt abge­ru­fen am 30.06.19.

 


1 Das »Joseph Breit­bach Sym­po­si­um« des Inter­na­tio­na­len Künst­ler­hau­ses Vil­la Con­cor­dia fand anläss­lich der Eröff­nung des Künst­ler­hau­ses und des 100. Geburts­ta­ges von Breit­bach statt.

2 Zum Kon­zept der Selbst­er­mäch­ti­gung vgl. https://www.uni-koblenz.de/~selbst/drupal/index.html.

3 Mit der Sig­le B und Sei­ten­zahl wird Breit­bach 1970 abge­kürzt zitiert.