Grenzerfahrungen am Beispiel LIGNAs Oedipus der Tyrann.
Eine Befreiungsphantasie1

Kris­tin Westphal

»Was sollt ich sehen,
dem sehend nichts zu schau­en süß war.
Nacht­wol­ke mein! / Umwo­gend. /
Unaus­sprech­lich. / Unbe­zähmt. / Unbe­wäl­tigt.
Wo ich es nicht gedurft, hab ich getö­tet.«
(LIGNA: Oedi­pus der Tyrann. Eine Befreiungsphantasie)

 

1. Grenzerfahrungen in Theater und Bildung

Peter Brook, Klas­si­ker des moder­nen Thea­ters, beschreibt den geteil­ten Raum, wie er sich im Thea­ter­spiel ent­fal­tet, mit die­ser pro­mi­nent gewor­de­nen Aussage:

Ich kann jeden lee­ren Raum neh­men und ihn eine nack­te Büh­ne nen­nen. Ein Mann geht durch den Raum, wäh­rend ihm ein ande­rer zusieht; das ist alles, was zur Thea­ter­hand­lung not­wen­dig ist (Brook 2012, 12).

Peter Brook spricht die Gren­ze zwi­schen Akteu­ren und Zuschau­ern an, deren Gestal­tung bzw. Über­schrei­tung für jede Auf­füh­rung gel­tend zu machen ist. Wann immer die­se Gren­ze ein­ge­eb­net, über­wun­den oder ver­scho­ben wird, ent­ste­hen im Thea­ter neue Erfah­rungs­räu­me, die sich aus einer immer wie­der neu ver­han­del­ba­ren Grenz­zie­hung zwi­schen Büh­nen- und Zuschau­er­raum, zwi­schen Fik­ti­on, Mög­lich­keit und Wirk­lich­keit kon­sti­tu­ie­ren. Geht es Peter Brook im Ver­lauf sei­ner Thea­ter­tä­tig­keit vor­nehm­lich um den Schau­spie­ler und des­sen Rela­ti­on zum Zuschau­er, rich­tet sich unser Augen­merk vor dem Hin­ter­grund einer Viel­zahl zeit­ge­nös­si­scher Ver­fah­rens­wei­sen in Thea­ter und Per­for­mance auf den Zuschau­en­den als Mit­spie­ler eines Gesche­hens bzw. einer Grenz­über­schrei­tung, der er aus­ge­setzt wird, die ihm wider­fährt (vgl. West­phal 2013). Die neue Her­aus­for­de­rung und Such­be­we­gung, wie sie in zeit­ge­nös­si­schen Pro­duk­tio­nen erprobt wird, reflek­tiert Bar­ba­ra Gro­nau folgendermaßen:

Der vor­mals stum­me gesichts­lo­se Augen­zeu­ge wird nun­mehr kör­per­lich adres­siert, sinn­lich ver­führt, latent bedroht oder buch­stäb­lich unter­wor­fen. Über sinn­li­che Wahr­neh­mung, leib­li­che Bewe­gung oder han­deln­des Ein­grei­fen sol­len die Zuschau­er zu enga­gier­ten Teil­neh­mern, Mit­spie­lern wer­den (Gro­nau 2010, 82).

Ran­ciè­re for­mu­liert das Para­dox ana­log zu Peter Brook, dass es kein Thea­ter geben kön­ne ohne Zuschau­er. Sei­ne Dia­gno­se des Zuschau­ers im Thea­ter fällt jedoch gegen­über dem Sta­tus des Schau­spie­lers als Akteur im Ver­hält­nis zur Pas­si­vi­tät des Zuschau­ers kri­tisch aus, der­ge­stalt der Zuschau­er einer Erschei­nung gegen­über­ste­he, von der er weder den »Her­stel­lungs­vor­gang noch die Wirk­lich­keit, die von der Erschei­nung ver­deckt wird, kennt« (Ran­ciè­re 2012, 12). Auch blei­be der Zuschau­er, wie es Sart­re schon als Ohn­macht beschrie­ben hat, »unbe­weg­lich pas­siv auf sei­nem Platz und auf die­se Wei­se von der Tätig­keit der Erkennt­nis und der Hand­lung getrennt« (ebd.).1 Er for­dert ein Thea­ter in sei­ner »ursprüng­li­chen Tugend«, ein Thea­ter ohne Zuschau­er, »wo die Anwe­sen­den ler­nen, anstatt von Bil­dern ver­führt zu wer­den, akti­ve Teil­neh­men­de wer­den, anstatt pas­si­ve Voy­eu­re zu sein« (Ran­ciè­re 2012, 14). Das Thea­ter sei so gese­hen der letz­te Ort der Kon­fron­ta­ti­on des Publi­kums mit sich selbst als Kol­lek­tiv.3

Nun gehört die Zeu­gen­schaft nicht nur zu den Grund­mo­ti­ven einer Phä­no­me­no­lo­gie des Thea­ters (vgl. Ros­elt 2008), son­dern auch der respon­si­ven Phä­no­me­no­lo­gie. »Am Anfang steht nicht jemand, der oder die von sich aus han­delt, son­dern jemand, dem oder der etwas geschieht« (Wal­den­fels 2010, 274). Die pathi­sche und respon­si­ve Sei­te einer Thea­ter­si­tua­ti­on bzw. Thea­ter­er­fah­rung aus der Per­spek­ti­ve des Zuschau­ers zu beleuch­ten, ist lei­tend für die nach­fol­gen­de phä­no­me­no­lo­gisch gelei­te­te Ana­ly­se. Zugrun­de gelegt wird die Beob­ach­tung, dass sich im Ver­lau­fe des spä­ten 20. Jahr­hun­derts bis heu­te die Auf­merk­sam­keit vom Ver­hält­nis des Schau­spie­lers und des­sen Rela­ti­on zum Zuschau­er – ein Erbe des 18. Jahr­hun­derts, wie Hans-Thies Leh­mann kon­sta­tiert (vgl. Deck/Sieburg 2008) – auf die Befra­gung der Rol­le des Rezi­pi­en­ten mit den unter­schied­li­chen Akzen­ten auf eine Teil­ha­be eher mehr als Akteur bzw. Respon­dent ver­scho­ben hat. Der von uns ver­tre­te­ne phä­no­me­no­lo­gi­sche Zugang ist mit Blick auf neue­re zeit­ge­nös­si­sche Ver­fah­rens­wei­sen und die genann­ten Per­spek­tiv­wech­sel in der Thea­ter- und beson­ders Per­for­mance­kunst in päd­ago­gi­schen Kon­tex­ten von daher eine wich­ti­ge meta­theo­re­ti­sche und metho­do­lo­gi­sche Refe­renz, inso­fern eine respon­si­ve Leib­lich­keit, Be- und Ent­zug, Lebens­welt, Dif­fe­renz- und Fremd­erfah­rung etc. Bezugs­grö­ßen für die Beschrei­bung und Ana­ly­se neue­rer Ver­fah­rens­wei­sen, Rezep­ti­ons- bzw. Pro­duk­ti­ons­wei­sen in den Küns­ten bedeu­ten, die von einem offe­nen, unab­schließ­ba­ren Kunst- und Bil­dungs­be­griff aus­ge­hen (vgl. West­phal 2018). Er erlaubt einen Anschluss an die Fra­ge, wie Erfah­run­gen in künst­le­ri­schen Ereig­nis­sen als (Selbst)Bildungsereignisse orga­ni­siert und struk­tu­riert sind (West­phal 2015a; 2019). So ist die Phä­no­me­no­lo­gie – zuge­spitzt for­mu­liert – auch eine Art von ›expe­ri­men­tel­ler For­schung‹, die das Feld unse­rer sinn­lich-leib­li­chen und kul­tu­rel­len Ord­nun­gen erkun­det und danach fragt, was die Stö­run­gen, Irri­ta­tio­nen usw. für ›Erfah­run­gen‹ und Wider­fahr­nis­se (als Lern­pro­zes­se) bedeu­ten.4 »Die Phä­no­me­no­lo­gie, die mit dem Begriff des Sinn- und Erfah­rungs­ho­ri­zon­tes einen Grenz­be­griff par excel­lence ein­setzt, arbei­tet auf ihre Wei­se an der Fra­ge, wie man Gren­zen beschreibt und über­schrei­tet, ohne sie auf­zu­he­ben« (Wal­den­fels 2002, 814).

Die phä­no­me­no­lo­gi­sche Per­spek­ti­ve, Bil­dung als respon­si­ves Ant­wort­ge­sche­hen vor dem Hin­ter­grund einer leib­li­chen Ver­wick­lung in kul­tu­rel­len Lebens­wel­ten zu begrei­fen, rüt­telt an der Vor­stel­lung eines Bil­dungs­ver­ständ­nis­ses, das Bil­dung als blo­ßen Aneig­nungs­pro­zess eines sou­ve­rä­nen Sub­jekts begreift, der ihm mehr oder weni­ger äußer­lich, weil ratio­nal, bleibt. Das Sub­jekt gerät viel­mehr in der phä­no­me­no­lo­gi­schen Betrach­tungs­wei­se in eine gedop­pel­te Posi­ti­on: Das Sub­jekt ist ein akti­ves Selbst, sofern es Ant­wor­ten her­vor­bringt, indem es sich leib­lich-kon­kret auf das Ande­re ein­lässt, und es ist zugleich Teil eines Kon­tex­tes, dem es sich erfah­rend über­lässt, über den es nicht voll­stän­dig ver­fügt und in dem es gera­de nicht auf sich selbst zurück­kommt (vgl. Westphal/Zirfas 2014). Zu über­prü­fen wäre die­se Annah­me anhand einer Thea­ter­si­tua­ti­on, die es dar­auf anlegt, den Besu­cher als Mit­spie­ler in den ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven dahin­ge­hend herauszufordern.

 

2. LIGNA Hamburg: Oedipus der Tyrann. Eine Befreiungsphantasie

Unser Bei­spiel ent­neh­men wir einer Per­for­mance, die im Rah­men des Live Art Fes­ti­vals auf Kamp­na­gel in Ham­burg (1.–11.6. 2011) urauf­ge­führt wur­de: Oedi­pus der Tyrann. Eine Befrei­ungs­phan­ta­sie. Die Grup­pe LIGNA besteht seit 1997 und ist vor­nehm­lich mit Pro­jek­ten bekannt gewor­den, die Ord­nun­gen in semi-öffent­li­chen Räu­men the­ma­ti­sie­ren und unter­lau­fen (vgl. Michael­sen 2013, LIGNA 2011). Über Kopf­hö­rer mit einem Funk­ra­dio ver­bun­den emp­fan­gen die Teil­neh­me­rIn­nen cho­reo­gra­fi­sche Anwei­sun­gen ver­bo­te­ner und aus­ge­schlos­se­ner Ges­ten an öffent­li­chen und pri­va­ti­sier­ten Orten wie dem Leip­zi­ger Haupt­bahn­hof oder einer Ein­kaufsmall in Ham­burg. Mit der hier bespro­che­nen Hör­per­for­mance geht das Kol­lek­tiv nun in den geschlos­se­nen Thea­ter­raum, um die­sen als Thea­ter­raum bzw. als tra­gi­schen Raum zu befra­gen. Aus­gangs­punkt für die Bear­bei­tung von Oedi­pus der Tyrann sind Über­set­zun­gen und Inter­pre­ta­tio­nen von Höl­der­lins Sopho­kles, durch­setzt mit Refe­ren­zen aus dem Anti-Ödi­pus von Gil­les Deleu­ze und Felix Guat­ta­ri (1977), sowie u.a. Bear­bei­tun­gen nach Hei­ner Mül­ler, die zu eige­nen Aus­le­gun­gen der sze­nisch ange­leg­ten Situa­tio­nen bei­tra­gen (LIGNA Skript 2011; vgl. van Eikels/Frahm 2015).

Vor dem Betre­ten des Thea­ter­raums wer­den gegen Pfand ein MP3-Play­er sowie eine Mull­bin­de zuge­teilt. Jedes der Gerä­te beher­bergt eine ande­re Ton­spur (was der Pro­band nicht weiß). Alle hören mit Kopf­hö­rern Radio, das über vier klei­ne, unter der Decke ange­brach­te Sen­der aus­ge­strahlt wird. Das Radio teilt das Publi­kum in vier Grup­pen, die nach­ein­an­der unter­schied­li­che Posi­tio­nen ein­neh­men. Auf­ge­for­dert wer­den wir zur Ein­nah­me von Ges­ten, zur Aus­füh­rung von Bewe­gun­gen, Übun­gen und zu Inter­ak­tio­nen mit Ande­ren. Über Kopf­hö­rer wer­den neben den Hand­lungs­an­wei­sun­gen die Stim­men von Iocas­te, Ödi­pus oder dem Chor und dem Seher ein­ge­spielt. Die Situa­tio­nen und die Stim­men evo­zie­ren Bil­der und Ima­gi­na­tio­nen. Was als nächs­tes für den Teil­neh­mer geschieht, bleibt dabei unvor­her­seh­bar. Das ›Publi­kum‹ hört und agiert somit gleich­zei­tig und wird auf­ge­for­dert, sich in den ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven zu erpro­ben. Mal fin­det man sich als Vater-Mör­der, mal als Zeu­ge in der Rol­le des Sehers Tei­re­si­as, mal als Opfer als Lei­che am Boden wie­der, mal in bereit geleg­ten Hand­spie­geln ›sich selbst‹ erken­nend, mal als Zuschau­en­der oder als tan­zen­der Chor bzw. Sprech­chor agie­rend, um nicht zuletzt gemein­sam mit allen als Blin­de – die Mull­bin­de um Kopf und Augen gewi­ckelt – den Weg aus dem Raum zurück zum Aus­gang wie­der zu finden.

2.1 Eintritt als Auftritt

Wir tre­ten in eine der kar­gen Hal­len auf Kamp­na­gel ein: schwar­zer Stein­bo­den, gekalk­te Wän­de, alte zuge­häng­te Fens­ter, schumm­ri­ges Licht, das aus ein­zel­nen gedimm­ten Strah­lern den Raum in eine Art Black­box ver­wan­delt. Neu­gie­ri­ge Bli­cke fal­len auf die ande­ren Teil­neh­mer, den Raum abtas­tend und ‑schrei­tend ori­en­tie­ren wir uns. Unter­bro­chen wird die Situa­ti­on durch eine ers­te Anwei­sung über Kopf­hö­rer. Der Die­ner spricht:

Suche Dir eine Stel­le im Raum, an der du dich gut fühlst. Set­ze dich bequem hin. Schaue um dich. Schaue den­je­ni­gen, die in dei­ner Nähe sit­zen, in die Augen, betrach­te sie genau. Und höre von Ödi­pus, dem Tyran­nen, von dem nicht weni­ge behaup­ten, dass sei­ne Herr­schaft heu­te kaum nach­ge­las­sen hat.

Es fol­gen von einer ande­ren Stim­me Zita­te aus Ödi­pus nach Höl­der­lin. Die Stim­me des Die­ners wie­der­um for­dert dazu auf, Wege im Raum zu gehen, Ges­ten ein­zu­neh­men, zu sum­men, die Augen zu schlie­ßen, spä­ter auch Text­frag­men­te oder Buch­sta­ben­fol­gen selbst zu spre­chen und so fort. Es gene­rie­ren sich mit den agie­ren­den Besu­chern sze­ni­sche Situa­tio­nen und cho­ri­sche Choreografien.

2.2 Wie der Raum des Zuschauers entsteht: Vom Ursprung des Theaters

Den Beginn des Spiels wol­len wir als Anlass neh­men, anhand eines Erfah­rungs­pro­to­kolls und Aus­zü­gen aus dem Skript des Hör­spiels die an die Teil­neh­mer gerich­te­te Her­aus­for­de­rung zu beleuch­ten. Das spe­zi­fi­sche die­ser Ver­suchs­an­ord­nung ist die Abwe­sen­heit von Schau­spie­lern und zugleich die Auf­for­de­rung an die Zuschau­er, sich vor dem Hin­ter­grund der ein­ge­spiel­ten Stim­men auf Zwi­schen­spie­le mit­ein­an­der ein­zu­las­sen. Die Auf­tei­lung in Zuschau­er- und Büh­nen­raum im Sin­ne einer klas­si­schen Ord­nung einer Thea­ter­vor­füh­rung ist damit hin­fäl­lig. Im ver­meint­lich lee­ren Raum ent­fal­ten sich als­bald ver­schie­de­ne Räu­me: So eröff­nen sich uns akus­ti­sche Räu­me über­tra­gen über Laut­spre­cher und über Kopf­hö­rer. Sie rufen einen Spiel­raum zwi­schen den Besu­chern her­vor, die sich durch­kreu­zen, über­la­gern oder unter­bre­chen. Es gestal­ten sich des Wei­te­ren Kör­per­räu­me, die sich in kol­lek­ti­ven Bewe­gun­gen oder in Ges­ten mit einem jewei­li­gen Gegen­über zu sze­ni­schen Situa­tio­nen und Zwi­schen­spie­len for­men. Ent­schei­dend ist die Erkennt­nis, dass mit der leib­lich-kör­per­li­chen Abwe­sen­heit der Schau­spie­ler die Besu­cher radi­kal auf sich selbst zurück­ge­wor­fen sind. Die­se radi­ka­le Abwei­chung von der klas­si­schen Anord­nung eines Zuschau­er- und Büh­nen­raums fin­det eine Ent­spre­chung im Text, der unse­re Hand­lun­gen beglei­tet und eine gewis­se Zäsur zum Aus­druck bringt.

Der Die­ner: Die Büh­ne ist ver­waist. Alle Hel­den sind gegan­gen. Von den Göt­tern redet schon lan­ge nie­mand mehr. Wen soll­te ihr Unglück auch küm­mern, heu­te. Und doch –               
Schau­en Sie sich um: Kein Schick­sal mehr. Sie sind allein mit­ein­an­der, ein von Hel­den und Göt­tern ver­las­se­nes Publi­kum.
Chor: Was soll ich singen?

Die über Radio vor­ge­tra­ge­nen und in Ges­ten umge­setz­ten Tex­te füh­ren uns zu der Fra­ge des Ursprungs des Thea­ters: der Tra­gö­die. Schon Nan­cy hebt her­vor, dass das Thea­ter aus dem Kult, in sei­ner Gesamt­heit aus dem Ereig­nis des Rück­zugs der Göt­ter her­vor­ge­he (Nan­cy 2002, 1). In die­sem Zusam­men­hang ist der Hin­weis von Hans-Thies Leh­mann inter­es­sant, der auf die wohl ein­zi­ge expli­zit selbst­re­fe­ren­ti­el­le Stel­le der anti­ken Tra­gö­die auf­merk­sam macht: »Im König Oedi­pus fleht der Chor, er möge immer auf dem Weg der Scheu vor den Göt­tern blei­ben, sich von Fre­vel nicht ver­füh­ren las­sen und Dike, die Göt­tin der Gerech­tig­keit, immer ach­ten« (Leh­mann 2013, 245). Der Chor mani­fes­tie­re somit die Gegen­wart der Göt­ter – ohne sie ver­lö­re er sei­ne Funk­ti­on. Nan­cy zu Fol­ge ist in einer Welt ohne Göt­ter das ›Eige­ne‹ erst anzu­eig­nen. Der Mensch müs­se sich die Mensch­heit aneig­nen, die nicht gege­ben sei, nie­mals. Das Ereig­nis als Aneig­nung beschreibt Nan­cy als ein »Kom­men in die Gegen­wart« (Nan­cy 2002, 1). Nan­cy befragt die Regeln des anti­ken Thea­ters, die aus der Tra­gö­die her­vor­ge­hen, um sie mit der Fra­ge nach einem zukünf­ti­gen Thea­ter zu kon­fron­tie­ren, wie sie in unse­rer Ver­suchs­an­ord­nung eben­falls ange­legt ist. Sei­ne Über­le­gun­gen bedeu­ten uns, dass es kei­ne Ant­wor­ten auf die gro­ßen Fra­gen mensch­li­cher Schick­sa­le bei Göt­tern und Hel­den zu fin­den gibt, selbst die Schau­spie­ler auf der Büh­ne ent­zie­hen sich im zeit­ge­nös­si­schen Thea­ter einer Ant­wort; die Besu­cher sind selbst her­aus­ge­for­dert, nach Ant­wor­ten zu suchen. Das Per­for­mance­mo­dell von LIGNA über­setzt die im Text ange­leg­te Meta­pho­rik in Hand­lungs­an­wei­sun­gen, die an die Besu­cher der Per­for­mance gerich­tet sind. Kei­ne Schau­spie­ler ste­hen bereit, die »Aneig­nung der Mensch­heit« (Nan­cy 2002, 1) anstel­le des Publi­kums zu voll­zie­hen. Tors­ten Michaelsen/LIGNA for­mu­liert das Anlie­gen in einem Gespräch folgendermaßen:

Wir gehen gera­de davon aus, dass es in dem Stück erst­mal um die Fra­ge nach der Bedin­gung des Sub­jekts geht, das Ent­schei­dun­gen trifft und selbst an sich ver­sucht, zu unter­su­chen, was sind denn sol­che Bedin­gun­gen dafür, dass ich sol­che Ent­schei­dun­gen tref­fen kann, dass ich in unse­rem Fall mit Blick auf den Ödi­pus­kon­flikt ein Gewis­sen habe (Tors­ten Michael­sen anläss­lich der Auf­füh­rung an der Uni­ver­si­tät Koblenz-Land­au Cam­pus Koblenz 2012).

2.3 Verantwortung/Distanznahme

Als Zeu­ge von Dar­bie­tun­gen tra­gen Zuschau­er übli­cher­wei­se eine gewis­se für die Zeit der Auf­füh­rung bestimm­te Ver­ant­wor­tung: In unse­rem Fal­le wird die­se über die Fra­ge der blo­ßen Rezep­ti­on hin­aus auf den Besu­cher über­tra­gen: Er wird selbst wech­sel­wei­se für ein Spiel mit Ges­ten und den Ande­ren oder der Beob­ach­tung her­an­ge­zo­gen, gleich­zei­tig ist er sich und Ande­ren aus­ge­setzt, ohne um einen Aus­gang zu wissen.

Durch die Wie­der­ho­lung der Spiel­si­tua­ti­on in einer ande­ren Rol­le ergibt sich ein Per­spek­tiv­wech­sel: Im Erle­ben der glei­chen Situa­ti­on aus unter­schied­li­cher Per­spek­ti­ve bekommt das Spiel erst sei­ne refle­xi­ve Qua­li­tät. Damit tre­ten Fra­gen nach der Sinn­stif­tung die­ser Labor-Situa­ti­on auf, in der man sich bewegt. Mit der Ahnung, dass unser Spiel Teil einer Ver­suchs­an­ord­nung ist, in dem der Wech­sel zwi­schen den ver­schie­de­nen Rol­len als Zuschau­en­de und als Akteu­re als ein durch­gän­gi­ges Prin­zip erho­ben wird, wird die Auf­merk­sam­keit zuneh­mend auf die Wahr­neh­mung von Grenz­si­tua­tio­nen gelenkt. Eine Situa­ti­on aus dem Hör­schau­stück wol­len wir genau­er untersuchen.

Ein Mann kommt auf mich zu. Er fasst mich mit bei­den Hän­den um den Hals, die Dau­men­kup­pen lie­gen auf mei­nem Kehl­kopf. Die Ges­te des Vater­mör­ders. Er bekommt offen­bar im glei­chen Maß die Anwei­sung, sich gegen mich zu leh­nen, wie ich die Anwei­sung bekom­me, dem mit leich­tem Druck Wider­stand zu leis­ten. Eine drit­te Per­son stellt sich zunächst neben uns, beob­ach­tet uns und ver­folgt unse­re Bewe­gun­gen. Ich weiß nicht, was als nächs­tes geschieht. Nach eini­ger Zeit begin­nen wir, uns anzu­lä­cheln, was uns kei­ne Stim­me aus dem Off sagt. Die­se beson­de­re Nähe aus­zu­hal­ten erfor­dert dees­ka­lie­ren­de Interventionen.

Wäh­rend wir in die­ser Stel­lung ver­har­ren, spricht die Stim­me aus den Laut­spre­chern im Raum. Bald gibt es neue Anwei­sun­gen und mein Part­ner von eben und ich gehen nun allei­ne wei­ter. Ich weiß nicht, ob es ›noch schlim­mer kommt‹ und bin einer­seits fas­zi­niert, füh­le mich in die­sem Raum geschützt, von dem ich ja weiß, dass er ein Raum des Thea­ters ist, ein Pro­be­raum, ein Als-Ob-Raum. Ande­rer­seits ist die­se Über­schrei­tung der per­sön­li­chen Gren­zen nie ohne Risi­ko. Wer steht mir gegen­über? Wer ist der Ande­re wirk­lich? Wer steht hin­ter mir? Wer steht neben mir? Grund­fra­gen des Mensch­seins sind es, die sich mir über die ange­leg­ten Ges­ten ver­mit­teln (Teil­neh­men­de Erfah­rung 2011).

Dem Pro­to­koll kön­nen wir ent­neh­men, dass die Ver­suchs­an­ord­nung als eine Situa­ti­on einer Über­schrei­tung erfah­ren wird. Ein Frem­der geht der Teil­neh­me­rin über­ra­schend an die Keh­le, von dem sie nicht weiß, wel­che Hand­lungs­an­wei­sung ihm in dem Moment ins Ohr gespro­chen wird und umge­kehrt. Eine drit­te Per­son, ein Zeu­ge des Gesche­hens (Seher Tei­re­si­as), ist noch im Spiel, die Bewe­gun­gen des Kamp­fes beglei­tend, ohne aber ein­zu­grei­fen. Eine für die Tra­gö­die typi­sche Kon­stel­la­ti­on wird hier nicht von Schau­spie­lern vor­ge­führt, son­dern von den Besu­chern aus­ge­führt. Eine Zäsur erfährt die Hand­lung durch die über Kopf­hö­rer ein­ge­spiel­te Rede von Tei­re­si­as:

Und hier setzt das Thea­ter ein. Das Thea­ter, das heißt die unmittelbare

Willkür, die zu Akten ohne Nut­zen treibt. Der Ursprung des Thea­ters ist eine Hand, die erho­ben ist, gegen den Vater, gegen den Gott einer Sze­ne, die der Macht der Rede und des Tex­tes unter­stellt ist.

Das Thea­ter der ein­zi­ge Ort auf der Welt, wo eine Gebärde

unwie­der­hol­bar ist. Der Vater­mord hat kein Ende.

Er wie­der­holt sich unbegrenzt.

Wer von die­sen Hun­den: Kir­chen, Armeen, Staa­ten und Thea­tern will

schon ster­ben?

(Skript LIGNA 2011)

Die Teil­neh­me­rin beschreibt die Situa­ti­on zunächst als einen unent­rinn­ba­ren Moment des Aus­ge­setzt-seins. Die Situa­ti­on weist aber auch aus, dass sie nicht allein Ödi­pus, dem Vater­mör­der aus­ge­setzt ist. Unse­re Besu­che­rin erfährt die Situa­ti­on in der Über­nah­me einer ange­sag­ten Ges­te als Opfer, als eine Über­tra­gung der Für­sor­ge für sich und zugleich in der Ver­ant­wor­tung für das Spiel­ge­sche­hen. In unse­rem Fal­le führt die Erfah­rung die Teil­neh­me­rin zu Über­le­gun­gen zum Thea­ter als fik­ti­vem Raum. In der beru­hi­gen­den Annah­me, dass es sich ja ›nur‹ um ein Spiel han­de­le, sucht unse­re Teil­neh­me­rin, Distanz her­zu­stel­len. Die­ser Grund­ge­dan­ke spie­gelt sich auch in der Rede des Tei­re­si­as, der das Thea­ter als einen Akt ohne Nut­zen kom­men­tiert. Gleich­zei­tig beschreibt sie aber auch ihre Ver­un­si­che­rung, wenn sie ver­mu­tet, dass die­se Über­schrei­tung nicht ohne Risi­ko sei. Dees­ka­lie­ren­de Ver­hal­tens­wei­sen wie ein Lächeln ret­ten sie über die span­nungs­ge­la­de­ne Spiel­si­tua­ti­on hin­weg. Deut­lich wird, dass die Ver­suchs­an­ord­nung erfor­der­lich macht, Maß­nah­men der Distanz­nah­me und Nähe bzw. Ein­las­sun­gen zwi­schen den Mit­spie­lern erst zu fin­den. In der Ord­nung des klas­si­schen Thea­ters hin­ge­gen ist die Rol­le des Zuschau­ers fest­ge­legt und gibt Sicherheit.

Hans Blu­men­berg arbei­tet in Schiff­bruch mit Zuschau­er die Situa­ti­on des Zuschau­ers als Para­dig­ma einer Daseins­me­ta­pher anthro­po­lo­gisch her­aus, die in der Fähig­keit des Men­schen begrün­det ist, in der Beob­ach­tung von Selbst und Welt Distanz – auch zu ver­ste­hen als Über­le­bens­kunst – neh­men zu kön­nen. Er ver­wen­det die in der Lite­ra­tur und Phi­lo­so­phie im 19. Jahr­hun­dert häu­fig ange­wen­de­te Meta­pher des Schiff­bruchs und eines am fes­ten Ufer ste­hen­den beob­ach­ten­den Zuschau­ers, um sie einem Ver­gleich mit der Tra­gö­die im Thea­ter zu unter­zie­hen. »Wir sind nicht ohne Mit­leid bei dem, was wir sehen und hören. Aber es macht uns doch ange­neh­me Emp­fin­dun­gen, unser Mit­leid durch die son­der­ba­re Kata­stro­phe auf­ge­regt und ins Spiel gesetzt zu sehen« (Dide­rot zit. nach Blu­men­berg 1979, 19). Kraft sei­nes Selbst­be­sit­zes blei­be der Zuschau­er eines Schiffs­bruchs unbe­scha­det (ebd., 20).

Gab die Exis­tenz des Thea­ters nun noch den Bür­gern der (anti­ken) polis die Gewiss­heit, dass sie den ent­schei­den­den zivi­li­sa­to­ri­schen Schritt der Distan­zie­rung getan haben und sich des­halb im Thea­ter einer künst­li­chen Wie­der­be­le­bung jener längst bewäl­tig­ten Mäch­te ohne Gefahr aus­set­zen kön­nen, so gibt das Thea­ter in der Post­mo­der­ne etwas Ande­res zu verstehen:

Es führt den Zuschau­ern vor Augen, dass sie noch gar kei­ne Zu-schau­er im eigent­li­chen Sin­ne sind, dass sie sich weit­hin auf die kul­tu­rell erwor­be­ne Indif­fe­renz, die sie gegen­über den urtüm­li­chen Dro­hun­gen auf Abstand bringt, nicht ver­las­sen kön­nen. Nicht mehr das sinn­kon­sti­tu­ie­ren­de Sub­jekt als Sou­ve­rän, das sich als ein Gegen­über der Dar­bie­tung ver­steht, wird hier gezeich­net, son­dern ein Invol­viert-sein, um eine ästhe­ti­sche Distanz­nah­me her­aus­ge­for­dert und zur har­ten, ste­ti­gen Arbeit am ›Zuschau­er-Wer­den‹ ver­ur­teilt (Ell­rich 2011, 191).

Die Über­le­gun­gen von Ell­rich, die eher kri­tisch die Ver­su­che um den neu­en »eman­zi­pier­ten Zuschau­er« beäu­gen, wei­sen auf zwei Modi eines Welt­be­zugs hin: Neben dem Aus­ge­setzt­sein, dem »Zustand des Betrof­fen­seins«, wer­de zugleich das Ver­lan­gen nach einer »über­le­bens­not­wen­di­gen Fähig­keit zur Distanz­nah­me« aus­ge­bil­det und je nach Bedarf (kon­trol­liert) ein­ge­setzt (ebd.). Räumt die klas­si­sche Thea­ter­ar­chi­tek­tur noch das Recht auf ein Sehen ein, wird sie im zeit­ge­nös­si­schen Avant­gar­de­thea­ter zu einer Leis­tung, die jeder Ein­zel­ne erst erbrin­gen muss (vgl. van Eikels 2013, 122). Aus­ge­löst durch die Anfor­de­run­gen zur Distanz­nah­me und Ver­ant­wor­tung für sich selbst, den Ande­ren und das Spiel­ge­sche­hen, bil­den sich – wie in unse­rem Fal­le als Grenz­si­tua­ti­on beschrie­ben – neue Wahr­neh­mungs- und Mög­lich­keits­räu­me, die in den Grenz­gän­gen zwi­schen den ein­zel­nen Per­spek­ti­ven die Mög­lich­keit der ›Ein­übung in abwei­chen­des Ver­hal­ten‹ auf­schei­nen lassen.

Als Mit­spie­ler sind wir so gese­hen her­aus­ge­for­dert, die Situa­ti­on zu befra­gen, »die das Thea­ter als eine Prak­tik ins­ge­samt herstellt/darstellt« (Leh­mann 2013, 179). Das Thea­ter – »dem Zwie­spalt zwi­schen Spek­ta­kel und Dida­xe« aus­ge­setzt (ebd., 190) – in sei­ner Wirk­sam­keit gegen­über einem blo­ßen Zuschau­en zu behaup­ten, wie es im Rah­men der Öffent­lich­keit von Mas­sen­me­di­en in der Selbst­in­sze­nie­rung von Pri­vat­heit und Poli­tik zu beob­ach­ten ist, zeigt sich dar­in, dass Denk­vor­gän­ge nicht wie in der Phi­lo­so­phie beim Den­ken allein blei­ben, son­dern die­se Vor­gän­ge zur Auf­füh­rung brin­gen (vgl. Nan­cy 2008). Die­se Vor­gän­ge erst kon­sti­tu­ie­ren mit Leh­mann das Spe­zi­fi­sche einer tra­gi­schen Erfah­rung in der Trans­for­ma­ti­on der Wahr­neh­mung von Schmerz und Leid, Ver­nich­tung und Schre­cken, Ver­lust, Ver­rat oder Tod. »Sie ist einer­seits per­sön­lich-indi­vi­du­el­le Erfah­rung, ande­rer­seits zu bestim­men durch ihre Ver­knüp­fung mit einer nicht­in­di­vi­du­ell erleb­ten Situa­ti­on […]« (Leh­mann 2013, 218).

Bezug­neh­mend auf die die Hand­lun­gen beglei­ten­de Rede des Sehers Tei­re­si­as, die das Kom­men­de weis­sa­gen­de Rede, wird von Leh­mann in der Sicht­wei­se von Höl­der­lin als eine Zäsur ver­stan­den, die für die Tra­gö­die kon­sti­tu­ie­rend sei. Mit ihr voll­zieht sich ein Auf­tritt, der in »gewis­ser Wei­se außer­halb des Kon­flikt­ge­sche­hens« blei­be (ebd., 199). Die von »anders­wo her­kom­men­de ins Spiel hin­ein­ge­spro­che­ne sehe­ri­sche frucht­los war­nen­de umsonst das Kom­men­de weis­sa­gen­de Rede des Tei­ri­si­as« bestimmt er als eine Zäsur des Sehens (ebd.). Er inter­pre­tiert die­se als eine »schlim­me­re Ver­zweif­lung als die, die den Hel­den befällt, eine Ver­zweif­lung, die beim Seher als Zorn aus­bricht und das Mit­ge­fühl des Zuschau­ers spie­geln« sol­le (ebd., 200). »Der Seher, der mit Ödi­pus im Zorn kom­mu­ni­ziert, über­trägt die­sen Impuls zum Hin­weg­set­zen über gege­be­ne Gren­zen auf den Zuschau­er, als Ver­such zu einer affek­ti­ven Über­schrei­tung, einem ›Über­wal­len‹« (ebd., 202).

 

3. Die fremde Geste – ein Bildungsprozess

Im Thea­ter geht es grund­sätz­lich immer um ein Zei­gen, aber auch ein Ant­wor­ten, das in unter­schied­li­cher Wei­se erfol­gen kann. Das Per­for­mance­kol­lek­tiv LIGNA unter­läuft bereits mit sei­ner Radio­ar­beit das Sen­der-Emp­fän­ger-Modell und setzt es in der Per­for­mance­ar­beit fort. Sie selbst ent­zie­hen sich als sicht­bar Zei­gen­de: Die Stim­men der Regie und der Sprecher/Schauspieler blei­ben anonym. Gleich­zei­tig wird dem Besu­cher ein gesi­cher­ter Platz, wie im Thea­ter sonst üblich, von dem aus er sich anonym in Distanz hal­ten kann, ent­zo­gen. Den Akteu­ren bleibt nur, sich selbst zu ent­wer­fen als ein Publi­kum, das kei­nes mehr ist, die »Aneig­nung der Mensch­heit« (Nan­cy 2002, 1) selbst zu voll­zie­hen. Der dar­in ent­hal­te­ne refle­xi­ve Moment von Bil­dung ent­fal­tet sich dabei in gewis­ser Wei­se erst im Nach­hin­ein. Die Kom­ple­xi­tät der Ver­suchs­an­ord­nung, die ver­schie­de­nen Raum-Ebe­nen und Per­spek­tiv­wech­sel zu einem kol­lek­ti­ven Gan­zen zusam­men­zu­füh­ren, for­dert dem Ein­zel­nen eine ästhe­ti­sche Denk-Hal­tung ab. Eine Teil­neh­me­rin beschreibt es folgendermaßen:

Es war für mich inter­es­sant, zu sehen, wann ich den gespro­che­nen Text wahr­ge­nom­men habe, wann ich mir und wann ich dem Gegen­über ganz nah war. Dabei spiel­ten ganz vie­le unter­schied­li­che kör­per­li­che Posi­tio­nen und emo­tio­na­le Zustän­de neben der Text­ebe­ne eine Rol­le. Ein Ein­druck des Tex­tes ver­mit­tel­te sich mir, indem sich das Gehör­te mit der Erfah­rung von Kör­per­lich­keit ver­misch­te. So stell­te sich eine sehr gute Nähe zum Text auf eine ganz ande­re Art und Wei­se ein, als wenn ich etwas im blo­ßen Zuschau­en erfah­re. Es ent­stan­den in mir wirk­lich Bil­der (Teil­neh­me­rin der Tal­kart 2012 Koblenz).

Deut­lich wird, dass die hier erfah­re­nen Grenz­gän­ge zu ande­ren als den gewohn­ten Auf­merk­sam­kei­ten her­aus­for­dern: In den Begeg­nun­gen erfah­ren sich die Betei­lig­ten als Mit-Spie­ler, als tem­po­rä­re Gemein­schaft, im Sin­ne von Nan­cy als ›Men­schen an sich‹. Das ›Wer­den des Publi­kums‹ voll­zieht sich mit­tels einer ges­ti­schen Insze­nie­rung, der ein wich­ti­ger bil­den­der Aspekt durch die Gestal­tung einer poten­ti­ell und struk­tu­rell ange­leg­ten Erwei­te­rung der Teil­ha­be des Zuschau­ers inhä­rent ist: Der Besu­cher wird zunächst in die Posi­ti­on ver­setzt, die in der Regel ein Schau­spie­ler besetzt. Über das Anle­gen einer frem­den Ges­te setzt er sich den ande­ren Besu­chern, die das Glei­che tun, aus.5 Die Anwei­sun­gen hier­zu erfol­gen durch eine anony­me Stim­me aus dem Off, die die Rol­le eines instru­ie­ren­den Regis­seurs ein­nimmt, der aber nicht sieht, wie die Anwei­sung aus­ge­führt wird; die Aus­füh­rung bleibt den Mit­spie­len­den über­las­sen. Die eben­falls anonym ein­ge­setz­ten Stim­men, die den dra­ma­ti­schen Text durch die Kopf­hö­rer ver­mit­telt spre­chen, erfah­ren auf die­se Wei­se eine Umset­zung in Stim­me, Ges­te, Hal­tung, Blick und Bewe­gung. In die­ser Situa­ti­on, dem Wech­sel­spiel aus Ver­ant­wor­tung, Ein­las­sung und Distanz­nah­me, ent­steht nun ein Mög­lich­keits­raum für den Besu­cher, sich über die gewohn­te Rol­le hin­aus­ge­hend als teil­neh­men­der Mit­spie­ler zu erpro­ben. Vor dem Hin­ter­grund der einer­seits struk­tu­rier­ten Vor­ga­ben und Instruk­tio­nen wird dem Besu­cher ande­rer­seits ein gesi­cher­ter Platz in einem dunk­len Zuschau­er­raum, von dem aus er sich anonym in Distanz hal­ten kann, ent­zo­gen. Hier nun ist er her­aus­ge­for­dert, sich ohne eine fes­te Posi­ti­on gegen­über den ande­ren Teil­neh­mern in wech­seln­den Räu­men zu bewe­gen und aktiv eine Haltung/Position ein­zu­neh­men. Ein zwei­tes Erfah­rungs­pro­to­koll führt uns dahin­ge­hend die Per­spek­ti­ve des Gegen­spie­lers der Teil­neh­me­rin der ers­ten teil­neh­men­den Erfah­rung (s.o.) auf:

Die Per­for­mance hat es rela­tiv schnell geschafft, dass ich gehor­sam war. Da waren ganz ein­fa­che Anwei­sun­gen, die man mit Ande­ren aus­ge­führt hat, die uns dazu gebracht haben, z. B. die Hand um den Hals des Gegen­übers zu legen. Als dann kam ›Drü­cken Sie jetzt fes­ter zu‹, war’s bei mir aus! ›Nee, das mach ich nicht!‹ und damit war ich ganz stark her­aus­ge­for­dert, selbst zu ent­schei­den, was ich mit­ma­che und was nicht (Teil­neh­men­de Erfah­rung anläss­lich der Auf­füh­rung an der Uni­ver­si­tät Koblenz 2012).

Die Beschrei­bung zeigt uns auf, wie unser Teil­neh­mer an eine – auch ethisch zu nen­nen­de – Gren­ze stößt. Die Auf­for­de­rung, zuzu­drü­cken, löst Wider­stand aus und ver­an­lasst unse­ren Teil­neh­mer, die Spiel­re­gel zu über­den­ken und sich her­aus­zu­neh­men: auch nicht mit­zu­spie­len. Er ist gefor­dert, sei­ne Gren­ze bei der Umset­zung der Instruk­ti­on durch den Appa­rat selbst zu fin­den. Erhel­lend ist in unse­rem Zusam­men­hang der Hin­weis von War­stat auf die Ambi­gui­tät der Meta­pho­rik von Gren­zen. Vie­le Gren­zen wer­den über­haupt erst dadurch erfahr­bar, dass man sie über­schrei­tet. Umge­kehrt kön­ne es nur dort zu Über­schrei­tun­gen kom­men, wo auch Gren­zen wahr­ge­nom­men wer­den (vgl. War­stat 2007, 188).

Was geschieht nun im Über­schrei­ten der Gren­ze? Was zei­gen die Akteu­re anstatt der Schau­spie­ler? Sind sie tat­säch­lich ›nur‹ über das Anle­gen der frem­den Ges­ten zu Ver-kör­pe­run­gen der Anord­nun­gen gewor­den? Der Blick auf die Ges­ten erlaubt es, die Grenz­über­schrei­tung genau­er zu fokussieren.

Nach Mer­leau-Pon­ty eröff­net der Blick des Zuschau­ers auf den Schau­spie­ler vie­le Mög­lich­kei­ten: »Was ich als den Leib des Andern zu betrach­ten begin­ne, ist eine Mög­lich­keit von Bewe­gun­gen für mich« (Mer­leau-Pon­ty 1994, 437). Ist der Zuschau­er im Thea­ter in der Wahr­neh­mung sowohl beim Ande­ren als auch bei sich, so ver­viel­fäl­ti­gen sich die Mög­lich­keits­räu­me in die­ser Spiel­an­ord­nung ins Ima­gi­nä­re eben­so wie in einem kon­kre­ten Hand­lungs- und Wahr­neh­mungs­raum: »Abwei­chen­des Ver­hal­ten muss geübt sein« (Sturm 2009,  96) bzw. im Anle­gen der frem­den Ges­te und im Wech­sel der Per­spek­ti­ven als Zeu­ge, Täter oder Opfer wer­den die Akteu­re zu Betrach­tern der Situa­ti­on, ihrer selbst und der Ande­ren. Nichts wird gezeigt, das nicht von den Zuschau­ern selbst gese­hen wer­den woll­te. In die­ser durch die Ges­te ver­kör­per­ten Hand­lungs­op­ti­on ist kein Sinn inhä­rent. Die »Rea­li­sie­rung und Ver­wirk­li­chung der Bedeu­tung selbst« (Mer­leau-Pon­ty 1966, 217) fin­det im Wech­sel der Kör­per­ges­ten und der damit ein­ge­nom­me­nen unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven statt. Im Wech­sel der Per­spek­ti­ven ist in der Vor­ge­hens­wei­se von LIGNA ange­legt, dass der ein­zel­ne Teil­neh­mer aus der Invol­viert­heit wie­der­um in eine Distanz gebracht wird, sie ihn also mit Leh­mann zu einem »exvol­vier­ten Zuschau­er« (Leh­mann 2013, 552) macht und er damit erst zur Refle­xi­on, einer Ant­wort her­aus­ge­for­dert ist. Ob der Zuschau­er die ein­ge­nom­me­ne Ges­te bereits als eine eige­ne Hand­lungs­op­ti­on ver­steht, sei dahin­ge­stellt. LIGNA stellt in der Ver­suchs­an­ord­nung ver­mit­telt durch einen Appa­rat ein Manu­al an Ges­ten bereit und eröff­net damit die Per­spek­ti­ve auf einen mög­li­chen Moment von Bil­dung: die Erfah­rung der Grenz­über­schrei­tung, sich in einer Situa­ti­on als hand­lungs- oder ohn­mäch­tig zu erle­ben, for­dert auf, ›Befrei­ungs­phan­ta­sien‹ zu entwickeln.

 

Literatur

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1 Der Bei­trag geht her­vor aus einem Vor­trag anläss­lich einer AG zusam­men mit Mal­te Brink­mann am Kon­gress DGfE zum The­ma Erzie­hungs­wis­sen­schaft­li­che Grenz­gän­ge (West­phal 2014).

2 Vgl. zur Aus­le­gung von Sart­re: West­phal 2011, 145f.

3 Eine grund­le­gen­de Theo­rie zur tra­gi­schen Erfah­rung als ein Fall der ästhe­ti­schen Erfah­rung erar­bei­tet Hans-Thies Leh­mann in einem umfas­sen­den Werk (2013, 146f. und 183f.). Das Anlie­gen der Stu­die ist, die »thea­tra­le Dimen­si­on in die Dis­kus­si­on der Tra­gö­die zurück­zu­ho­len und sogar als ihr zen­tra­les Ele­ment« aus­zu­wei­sen (ebd., 15). Die­se zeich­net sich in den Dis­kur­sen zur Tra­gö­die vor­nehm­lich durch eine Schief­la­ge aus, inso­fern die Reduk­ti­on der Tra­gö­die auf Lite­ra­tur die Bedeut­sam­keit der Auf­füh­rung, in der Text, Raum und Kör­per erst zusam­men­ge­hen, ver­nach­läs­si­gen oder marginalisieren.

4 Respon­si­vi­tät ist ein Begriff, den Bern­hard Wal­den­fels für die­sen Zusam­men­hang geprägt hat. Er hat ihn von Kurt Gold­stein (1934), einem Neu­ro­lo­gen und Psych­ia­ter, ent­lehnt, der im Fal­le einer Krank­heit von einer man­geln­den Ant­wort­fä­hig­keit und ‑bereit­schaft spricht (vgl. Wal­den­fels 1994, 458). Das Para­dig­ma der Respon­si­vi­tät ist als Kri­tik gegen­über dem des kau­sa­len Reiz-Reak­ti­on-Sche­mas des Beha­vio­ris­mus zu lesen. Wal­den­fels beschreibt mit Respon­si­vi­tät ein Ver­hal­ten, das inter-sub­jek­tiv und kon­tex­tu­ell gene­riert wird, d.h. in der Ver­mitt­lung von eige­nen und frem­den, kon­kret situa­ti­ven Ansprü­chen ent­steht (vgl. ebd.). Vgl. auch die Beschrei­bung von Grenz­erfah­run­gen, wie sie durch die Medi­en in der Tren­nung von Stim­me und Kör­per mit dem Beginn des 20. Jahr­hun­derts erfolgt sind (West­phal 2002, 2015b und 2015c).

5 Vgl. mei­ne Über­le­gun­gen zu Fremd­erfah­run­gen in Bil­dung und Theater/Kunst (West­phal 2014 a).