Aria variata – oder:
Versuch einer multimodalen Grenzüberschreitung in 2 Akten

David und Tho­mas Niehr (unter Mit­ar­beit von Johann Chris­toph Bach)

 

1. Eine Art Einleitung

Dass Andre­as Lie­bert nicht nur Lin­gu­ist und Kul­tur­wis­sen­schaft­ler, son­dern auch Musik­lieb­ha­ber ist, dar­aus macht er kein Geheim­nis. Dass sei­ne Lie­be der zeit­ge­nös­si­schen Musik gilt, wie sie etwa vom Kro­nos-Quar­tett auf­ge­führt wird – auch das ist bekannt.

Für einen Men­schen, der weni­ger der zeit­ge­nös­si­schen Musik ver­haf­tet ist als Andre­as, bedeu­tet bereits das Noten­bild solch zeit­ge­nös­si­scher Musik eine »Grenz­über­schrei­tung«, denn wo ist die Melodie?

Abb. 1: Jour­ney of The Hori­zon­tal Peo­p­le (Quel­le: https://themagsantafe.com/ravenchacon/; zuletzt abge­ru­fen am 26.04.2019)

 

2. Grenzüberschreitungen

2.1 Grenzüberschreitung I, zeitlich

Auf der Suche nach einer brauch­ba­ren Melo­die gehen wir zunächst gut 300 Jah­re zurück und bege­ben uns in das 17. Jahr­hun­dert. Wie wir wis­sen, ent­stammt Johann Sebas­ti­an Bach (1685–1750) einer begna­de­ten Musi­ker­fa­mi­lie. Einer sei­ner Onkel, Johann Chris­toph Bach (1642–1703), war der Sohn des Ober­kir­chen­or­ga­nis­ten Hein­rich Bach in Arn­stadt. Dort wur­de Johann Chris­toph 1663 Schloss­or­ga­nist. Zwei Jah­re spä­ter sie­del­te er nach Eisen­ach über, wo er bis zu sei­nem Tode das Amt des Stadt­or­ga­nis­ten beklei­de­te. Der Eisen­acher Bach hat – wie es sich für einen Spross der Bach-Fami­lie gebührt – auch kom­po­niert, über­lie­fert sind haupt­säch­lich Vokal­wer­ke, die von sei­nem berühm­ten Nef­fen Johann Sebas­ti­an spä­ter in Leip­zig wie­der­auf­ge­führt wur­den. »Cla­vier­wer­ke« von Johann Chris­toph Bach ken­nen wir nur wenige.

Über­lie­fert ist jedoch, dass Johann Chris­toph Bach ein genia­ler Kla­vier- und Orgel­vir­tuo­se war. Carl Phil­ipp Ema­nu­el Bach (1714–1788), einer der Söh­ne Johann Sebas­ti­ans, berich­tet über sei­nen Groß­on­kel, dass die­ser »auf der Orgel, und dem Cla­vie­re […] nie­mahls mit weni­ger als mit fünf not­hwen­di­gen Stim­men gespie­let« habe (Vor­wort zu Johann Chris­toph Bach, Wer­ke für Cla­vier, Wiesbaden/Leipzig/Paris: Breit­kopf & Här­tel 2002).

Schaut man sich das Noten­bild der Aria an, so lässt deren vier­stim­mi­ger Satz, der auf einer schlich­ten Melo­die in a‑Moll beruht, erah­nen, dass der Eisen­acher Bach ihn wohl vir­tuo­ser ›gespie­let‹ haben mag, als das dür­re Noten­bild es wie­der­ge­ben kann.

Abb. 2: Das The­ma der Aria (1. Teil)

Jeden­falls han­delt es sich um eine gut sing- und spiel­ba­re Melo­die, die hier zunächst ein­stim­mig auf einem Instru­ment ein­ge­spielt wird, das zur Zeit des Eisen­acher Bachs ver­brei­tet war.

 

Track 1:  Melo­die (Teil 1, Cembalo)


Wie­wohl die Auf­füh­rungs­pra­xis der dama­li­gen Zeit nicht voll­stän­dig über­lie­fert ist, kann man davon aus­ge­hen, dass die­ser ers­te Teil der Melo­die wie­der­holt wur­de, bevor der zwei­te Teil auf­ge­führt wurde.


Abb. 3: Das The­ma der Aria (2. Teil)

Auch die­ser zwei­te Teil der Melo­die, bestehend aus vier Tak­ten, ist wenig auf­re­gend. Ledig­lich die bei­den Ach­tel­no­ten im vor­letz­ten Takt sor­gen – zumin­dest ein klein wenig – für Schwung.

Track 2:  Melo­die (Teil 2, Cembalo)

Wie man gut erken­nen kann, hat Johann Chris­toph Bach sei­ne Aria varia­ta als vier­stim­mi­gen Satz notiert. Die Har­mo­nien klin­gen ver­traut und ber­gen kei­ne Überraschungen.

Track 3: Aria vier­stim­mig (Cem­ba­lo)

2.1.1 Grenzüberschreitung mit Bass – oder: Der ›Bass muss laufen‹

Es gilt als eine Erkennt­nis der jüngs­ten Musik­ge­schich­te, genau­er des Rock ’n’ Roll, dass der Bass ›lau­fen‹ muss. Dies hat der (nicht nur) Rock ’n’ Rol­ler Rai­nald Gre­be in sei­nem berühm­ten Elfen­bein­kon­zert ein­drucks­voll gezeigt. Hier kön­nen wir aller­dings mit die­sem musik­ge­schicht­li­chen Irr­tum auf­räu­men, denn offen­sicht­lich wuss­te auch schon der Eisen­acher Bach, dass der Bass ›lau­fen‹ muss. Dies zeigt bereits das Noten­bild sei­ner 3. Varia­ti­on der Aria.

Abb. 4: Varia­tio 3

Lässt man also den Bass lau­fen, dann ergibt sich das fol­gen­de Klangbild:

Track 4: Aria mit ›lau­fen­dem‹ Bass (Varia­tio 3)

2.2 Grenzüberschreitung II, zeitlich und instrumental

Vie­le Stü­cke der Barock­zeit sind nicht auf ein Instru­ment beschränkt, ins­be­son­de­re wenn man in der Instru­men­ten­fa­mi­lie bleibt. In unse­rem Fall also in der Fami­lie der Tas­ten­in­stru­men­te. Spielt man den vier­stim­mi­gen Satz auf einem grö­ße­ren Instru­ment, so ergibt sich ein abwechs­lungs­rei­che­res Klangbild.

Wir haben uns in die­sem Fal­le für eine drei­ma­nua­li­ge Kir­chen­or­gel ent­schie­den, die Orgel der Lau­ren­ti­us-Kir­che in Aachen-Lau­ren­sberg. Das Instru­ment stammt aus dem Jah­re 1978 und ver­fügt über 31 Register.

Abb. 5: Die Orgel der Lau­ren­ti­us-Kir­che in Aachen-Laurensberg

Hier klingt die Aria dann folgendermaßen:

Video 1: Aria (Orgel) (Johann Chris­toph Bach)

Behält man dar­über hin­aus Carl Phil­ipp Ema­nu­el Bachs Dik­tum in Erin­ne­rung, nach dem sein Groß­on­kel »nie­mahls mit weni­ger als mit fünf not­hwen­di­gen Stim­men gespie­let« habe, so bie­tet sich die Orgel gera­de­zu an, die im Noten­bild nicht vor­han­de­ne fünf­te »not­hwen­di­ge« Stim­me hinzuzufügen.

Die­se haben wir in der fol­gen­den Auf­nah­me im Pedal des Instru­ments hin­zu­ge­fügt. Und wir haben ein paar zusätz­li­che Regis­ter gezo­gen, um dem Gan­zen etwas mehr Glanz und Far­be zu verleihen.

Video 2: Aria varia­ta fünf­stim­mig (Orgel mit Pedal) (Johann Chris­toph Bach)

Und aus lau­ter Über­mut – und als klei­ne Hom­mage an die Musik des 20./21 Jahr­hun­derts – haben wir noch ein Holz­blas­in­stru­ment hin­zu­ge­fügt, das der Bach-Fami­lie übri­gens nicht bekannt war. Dies liegt dar­in, dass die­ses Instru­ment erst im 19. Jahr­hun­dert erfun­den wurde.

 

Video 3: Aria varia­ta (Saxo­phon & Orgel) (Johann Chris­toph Bach)

 

3. Coda

Es bleibt uns, abschlie­ßend mit einer klei­nen Kadenz herz­lich zum 60. Geburts­tag musi­ka­lisch ana­log wie digi­tal zu gratulieren:

Video 4: Schluss-Kadenz für Andreas