»Habseligkeiten« oder: sollen sich Linguist*innen mit ›Sprachschönheit‹ beschäftigen?
Vorüberlegungen zu einer linguistischen Theorie der ästhetischen Wahrnehmung von Sprache

Hajo Diekmannshenke

 

Abb. 1: Sprachverliebte (http://www.deutscher-sprachrat.de/aktionen/299/die-gewinner/)

1. »Habseligkeiten«

Am 24.10.2004 verkündete u.a. Der Spiegel, dass »Sprachexperten […] ›Habseligkeiten‹ zum schönsten deutschen Wort gekürt [haben]. Beim internationalen Wettbewerb machten fast 23.000 Menschen aus 111 Ländern mit – ›Lieben‹ war weltweit der unangefochtene Spitzenreiter, doch die Jury wollte es anders« (https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/wettbewerb-habseligkeiten-ist-schoenstes-deutsches-wort-a-324670.html).

[…] Lexikalisch gesehen verbindet das Wort zwei Bereiche unseres Lebens, die entgegengesetzter nicht sein könnten: das höchst weltliche Haben, d. h. den irdischen Besitz, und das höchste und im irdischen Leben unerreichbare Ziel des menschlichen Glücksstrebens: die Seligkeit.

Diese Spannung ist es, die uns dazu bringt, dem Besitzer der Habseligkeiten positive Gefühle entgegenzubringen, wie sie gemeinhin den Besitzern von Vermögen und Reichtümern oder Eigentümern von Krempel, Gerümpel und Altpapier versagt bleiben.

Und wo sonst der Weg zum spirituellen Glück, zur Seligkeit also, eher in der Abwendung von weltlichen Gütern oder doch zumindest in der inneren Loslösung aus der Abhängigkeit von Weltlichem gesehen wird, so fassen wir hier die Liebe zu Dingen, allerdings zu den kleinen, den wertlosen Dingen auf als Voraussetzung zum Glück.

Doris Kalka – Deutschland (http://www.deutscher-sprachrat.de/aktionen/299/die-gewinner/)

Jutta Limbach, die eine Auswahl der Begründungen für die jeweilige Wahl des schönsten Wortes herausgegeben hat, erläutert die Intention des Deutschen Sprachrates:

Der Deutsche Sprachrat hat mit seinem Wettbewerb ›Das schönste deutsche Wort‹ sein vornehmstes Ziel, die Aufmerksamkeit auf den Reichtum der deutschen Sprache zu lenken. […] Zum Glück begriffen viele – vor der deutschen Grammatik unerschrockene – Journalistinnen und Journalisten, dass es uns um die Freude an einer wunderbaren Sprache ging, und stellten eine Frage, die der Deutsche Sprachrat bewusst offen gelassen hatte: die Frage nach den Kriterien (Limbach 2005, 9).

Und sie kommt zu dem Ergebnis: »Unser Wettbewerb hat so vielfältige und unterschiedliche Vorschläge von kostbaren Wörtern hervorgebracht, die viel von der Schönheit und dem Reichtum sowohl unserer Sprache als auch unserer Kultur erzählen« (Limbach 2005, 11).

Man mag am Sinn und der Aussagekraft solcher ›Wettbewerbe‹ zweifeln, sie zeigen aber auch, dass Menschen Sprache(n) nicht allein (und manchmal auch nicht in erster Linie) nach ihrer Funktionalität beurteilen, sondern auch anhand einer Vielzahl anderer Kriterien. So rief vor kurzem das US-Reise-Portal Big 7 Travel seine Leser*innen dazu auf, die erotischste Sprache zu küren. Das Ergebnis wird überraschen, es ist das neuseeländische Englisch, Deutsch landet nur auf Platz 46 der Top 50 (https://www.berliner-kurier.de/ratgeber/reise/es-ist-nicht-franzoesisch-die-sprache-mit-dem-hoechsten-sex-appeal-ist—-32458484). Selbstverständlich kennt der Spiegel (2.10.2012) auch eine Rangliste der beliebtesten bzw. unbeliebtesten Dialekte: »Sächsisch ist der unbeliebteste Dialekt in Deutschland, noch vor Berlinerisch und Kölsch. Überraschend gut können die Bundesbürger dagegen Bayerisch leiden – doch die populärste Mundart kommt nicht aus dem Südosten, wie eine aktuelle Umfrage zeigt« (https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/dialekte-saechsisch-ist-unbeliebteste-mundart-der-deutschen-a-859108.html). An er­ster Stelle in dieser laut Spiegel repräsentativen Befragung rangiert das Hamburger (Nord-)Deutsch vor dem Bayerischen (besser: Bairischen).

Und als in den 1990er Jahren in der Medienlandschaft (und an Stammtischen) der Streit um die Rechtschreibreform tobte und es sogar auf die Titelseite des Spiegels brachte, ging es nicht nur um Kosten (für neu zu druckende Schulbücher, Formulare und vieles mehr), um Unsinn (statt sich um andere, wichtigere Dinge zu kümmern), sondern auch um Schönheit und Hässlichkeit. Florian Kranz (1998) hat in seiner Auseinandersetzung um die Argumente für und wider die Rechtschreibreform darauf hingewiesen, dass die »meisten Leute […] einfach [sagen; HJD], dass Schifffahrt, Betttuch und vor allem Zooorchester (hat das eigentlich schon irgendjemand einmal gehört oder gar geschrieben?) und Seeelefant schrecklich aussähen.« (Kranz 1998, 93) Inwiefern und ob überhaupt solche Argumente für eine Rechtschreibreform relevant sind, soll hier nicht diskutiert werden.

Kehrt man noch einmal zum Wettbewerb zurück, so zeigen ausgewählte Begründungen für die jeweilige Wortwahl durch die Teilnehmer*innen auf der Seite des Deutschen Sprachrats (www.deutscher-sprachrat.de) und bei Limbach (2005), dass auch (subjektive) ästhetische Aspekte offenbar eine Rolle spielen.

Ich glaube, viele haben diesen Wettbewerb nicht verstanden. Es geht doch nicht darum, die schönste Sache zu wählen, sondern das schönste Wort zu prämieren.

Kinderlachen ist etwas Wunderschönes. Aber was für ein beknacktes Wort! Man stelle sich jemanden vor, der kein Wort Deutsch spricht. Jetzt sage man zu ihm in einem etwas lauteren Tonfall ›Kinderlachen‹.

Verschreckt wird er das Weite suchen! Auch Liebe, Glück und Heimat sind toll. Die Wörter dazu aber eher einfallslos und nicht wirklich schöner als ›Hiebe‹, ›Mücke‹ oder ›Fahrrad‹. Mein derzeitiges Lieblingswort ist ›Rhabarbermarmelade‹. Was für ein Klang!

Und welches Wohlgefühl umfällt mich, wenn ich Sonntag morgens zu meinem Schatz sagen kann: ›Barbara, reich mir doch bitte die Rhabarbermarmelade.‹ – Der Tag ist gerettet!

Frank Niedermeyer – Deutschland (http://www.deutscher-sprachrat.de/aktionen/299/die-gewinner/)

Ästhetische Kriterien sind für Sprachbenutzer*innen offensichtlich bedeutsam. Doch reicht das aus, damit sich Linguist*innen mit Sprachschönheit beschäftigen? Oder sollte man die Frage besser dahin erweitern zu fragen, ob ästhetische Aspekte auch Gegenstand der Linguistik sein können oder sollen?

 

2. Eine linguistische Sicht auf ›Sprachschönheit‹ und Ästhetik

Gibt es denn überhaupt ›Sprachschönheit‹? Ein erster Zugang zur Beantwortung dieser Frage besteht im Blick in Wörterbücher. Bei Adelung findet sich kein entsprechender Beleg. Das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm verzeichnet dagegen ein Lemma Sprachschönheit: »sprachschönheit, f. schönheit einer sprache; eine einzelne schönheit in einer sprache. Campe: sie (die philosophische sprache) giebt ihrer innern würde und beschaffenheit nach alle ansprüche auf poetische sprachschönheiten auf. Herder bei demselben« (DWB, Bd. 16, Sp. 2780).

Neuere Ausgaben des Duden-Wörterbuchs verzeichnen diese Lemmata allerdings nicht mehr. Daraus kann man vielfältige Schlüsse zielen. Der naheliegendste ist der, dass das Wort heute nicht mehr gebräuchlich ist. Eine mögliche Begründung könnte darin liegen, dass Sprachschönheit eben kein Gegenstand der Linguistik ist und im Alltag offensichtlich nicht gebraucht wird, auch wenn die vielfältigen Einsendungen zum Wettbewerb möglicherweise dagegen sprechen.

Ein weiterer Blick zurück in die Geschichte der Beschäftigung mit deutscher Sprache fördert allerdings zutage, dass Sprachschönheit durchaus von Interesse gewesen ist. In Hans Eggers Darstellung der Geschichte der deutschen Sprache (Eggers 1986, 245) nennt er als ein Ziel der Sprachgesellschaften die »Sprachschönheit« (mit Bezug auf Harsdörffers Teutsche Spracharbeit: »Daß man sich zu solchem Ende der besten Aussprache im Reden / und der zierlichsten gebunden = und ungebundener Schreibarten befleissige« (zit. n. Eggers 1986, 245)). Doch spätestens mit der Aufklärung verschwindet das Konzept der Sprachschönheit für eine längere Zeit aus dem sprachwissenschaftlichen Diskurs. Sprache als ästhetisches Objekt scheint nun ausschließlich im Fokus der Literaturwissenschaft zu stehen. Zwar hat sich die Germanistik als Wissenschaft von der deutschen Sprache und Literatur (und ihrer Didaktik) im universitären Fächerkanon etabliert, dennoch scheint es weiterhin einen (mehr oder weniger) tiefen Graben zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft zu geben, den das gemeinsame Dach Germanistik nur bedingt zu überbrücken vermag. Erst in der Bewegung des Russischen Formalismus finden sich wieder Gedanken, die eine Verbindung zwischen Linguistik und ästhetischen Konzepten konstatieren. Ein Grund hierfür liegt sicherlich auch in der Tatsache begründet, dass innerhalb des Russischen Formalismus Linguist*innen, Semiotiker*innen und Literaturwissenschaftler*innen (und Schriftsteller*innen) eine gemeinsame Theorie erarbeitet haben.1 Bezeichnenderweise spielt in diesem Zusammenhang Roman Jakobson eine gewichtige Rolle. In seiner Schrift Linguistik und Poetik hat Jakobson eine Erweiterung des Bühler’schen Organonmodells vorgenommen, indem er dieses u.a. um die poetische Funktion ergänzt hat.

Abb. 2: Jakobson 1979, 94

Folgt man seiner Auffassung, so muss einem sprachlichen Zeichen neben den drei bei Bühler genannten Funktionen (Ausdruck, Appell und Darstellung) grundsätzlich auch eine poetische und damit ästhetische Dimension zugeschrieben werden. Ob und wie diese letztlich kommunikativ relevant wird, hängt von den jeweiligen spezifischen kommunikativen Bedingungen ab.

Was sind denn nun die ›Ziele‹ der poetischen Sprache im Unterschied zu denen gefühlshafter Äußerungen [die sich auch in der ›praktischen‹ Sprache finden; HJD]? Jakobsons Erklärungen hierzu sind von höchstmöglicher Klarheit. Er räumt ein, daß Dichtung der gefühlshaften Sprechweise näher stehe als der verstandesmäßigen. In der ersteren sei das ›Verhältnis zwischen Klang und Bedeutung organischer, enger‹ als in der letzteren: der Versuch, Gefühle mit Hilfe ›passender‹ Klangverbindungen zu übertragen, erfordert stärkere Aufmerksamkeit gegenüber der Klangfülle eines Wortes. Hier aber, beharrt Jakobson, hört die Ähnlichkeit auch auf. In der gefühlshaften Sprache wird die ›passende‹ Klangverbindung nicht um ihrer selbst willen gewertet, sondern um dessentwillen, was sie übermittelt: der Wohlklang ist ein Handlanger der Kommunikation« (Erlich 1973, 201f.).

Will man trotz dieses Befundes am Konzept der ›Sprachschönheit‹ bzw. der ästhetischen Dimension von Sprache festhalten, dann wäre als erstes der Klang von Sprachlauten zu nennen. Infolge der intensiven Beschäftigung mit Poesie rückt auch im Russischen Formalismus der Klang in der Theorie an eine prominente Stelle. Zwar leben wir in einer Welt der Schriftlichkeit, dennoch ist Sprache zuallererst Klang. Deutlich wird das besonders, wenn man Sprachen hört, die man nicht versteht.2 Aus Klang wird schließlich auch Musik als auditive Kunst, die über eine ebenso komplizierte Systematik (und damit über etwas der Grammatik von Sprachen Verwandtes) wie Sprache verfügt. Nicht umsonst finden sich unter den vielfältigen Sprachursprungsmodellen auch einige, in denen Klänge eine zentrale Rolle spielen (vgl. Jespersen 1925). Und auch die Urteile über die Beliebtheit von Dialekten beruhen auf dem Klang des jeweiligen Dialekts. Für den Bonner Kabarettisten Konrad Beikircher ist Sprache sogar immer auch Musik (Beikircher 2004).

Die Beliebtheit von Hörbüchern – und dies gilt nicht nur für literarische Hörbücher, denn es werden auch Sachbücher als Hörbücher angeboten und sind überaus erfolgreich – unterstützt ebenfalls die These, dass der Klang der Stimme eine große Rolle bei der Bewertung des Gehörten spielt. Ähnliches kann man auch in Bezug auf die Renaissance des Hörspiels annehmen.

 

3. Die Glossolalie des Dadaismus und Kinderverse

Im Dadaismus zählen Sprachexperimente als Akte der Dekonstruktion der bestehenden Sprachnormen zu den zentralen Inszenierungen, wodurch eine neue Form von Sprach-Kunst entsteht. Stellvertretend seien hier zwei Klanggedichte Hugo Balls betrachtet:

Abb. 3: Hugo Ball: Karawane (entnommen aus: Riha/Schäfer 2015: 54f.)

Audiofile 2: Hugo Balls Karawane (https://www.youtube.com/watch?v=2vSG-tXZxQc)

»Der feierliche Vortrag von Hugo Balls Lautgedicht Karawane […] am 23. Juni 1916 im Cabaret Voltaire war ein Schlüsselmoment des Zürcher Dada und ein Musterbeispiel seiner glossolalischen Experimente.« (Robertson 2016, 144)

Abb. 4: Hugo Ball: Gadji beri bimba (entnommen aus: Riha/Schäfer 2015, 56)

Destruktion und Neukonstruktion von Sprache sind Gegenstand von Balls Experimenten, die zudem im Rahmen künstlerischer Performances präsentiert werden und Verstörung bei den Zuhörer*innen und Zuschauer*innen auslösen sollen (und sicher auch ausgelöst haben). Vollständige Zerstörung der Sprache ist allerdings nicht das Ziel.

Doch solche Sprachexperimente sind nicht nur Bestandteil der Literatur- und Kunstgeschichte, sie finden sich auch in den Sprachspielereien von (kleinen) Kindern, die Sprache – hierin den Dadaisten nahestehend – nicht nur als ein System von feststehenden Regeln verstehen, sondern als ein Spielfeld für eigene sprachliche Experimente, und die durchaus als Beispiele für kindliche Alltagsästhetik interpretiert werden können:

Ele mele mink mank
Pink pank
Use buse ackadeia
Eia weia weg

(Rühmkorf 1967,38).

 

4. Poetische und praktische Sprache im Rahmen des Russischen Formalismus

Die zentrale Rolle des sprachlichen Klangs haben auch die Russischen Formalisten betont, wobei sie diesen als eines der wesentlichen Unterscheidungsmerkmale zur Alltagssprache sahen, ohne allerdings zu behaupten, der Klang spiele in der Alltagssprache keine Bedeutung.

Die Formalisten bestritten nicht, daß Rhythmus oder eine Tendenz zum Rhythmus auch in berichtender Prosa [der Alltagssprache; HJD] gefunden werden kann. Aber entsprechend ihrer funktionellen Literaturauffassung sahen sie die unterscheidenden Merkmale der Verssprache nicht in der bloßen Anwesenheit eines Elements – in diesem Fall einer regelmäßigen Anordnung des Klanggefüges – sondern in dessen Rang (Erlich 1973, 236).

Man kann eine solche Auffassung mit Betonung der jeweiligen Funktionalität durchaus als einen pragmatischen Ansatz zum Verständnis ästhetischer Phänomene verstehen. Dementsprechend fährt Erlich weiter fort: »In der ›praktischen‹ oder der wissenschaftlichen Sprache, so hieß es, ist der Rhythmus nur ein sekundäres Phänomen, eine physiologische Selbstverständlichkeit oder ein Nebenprodukt der Syntax« (ebd.).

Das bedeutet zum einen, dass der Rhythmus ein integraler Bestandteil von Sprache ist, jedoch funktional unterschiedlich ausgeprägt und bedeutsam sein kann. Für die Russischen Formalisten ist die (sprachliche) Verfremdung des alltäglich Gewordenen in der Literatur das entscheidende Verfahren, um ›Kunst‹ zu generieren. Nicht anders verfahren Menschen jedoch auch in vielen Alltagssituationen, wollen sie besondere Wirkung erzielen:

Wenn wir in einem Anfall von Zärtlichkeit oder Bosheit einem Menschen liebend zusprechen oder einen Menschen beleidigen wollen, dann genügen uns die verschlissenen, abgenagten Worte nicht, dann ballen und zerbrechen wir sie, damit sie das Ohr treffen, damit man sie sehen kann und sie nicht nur wiedererkennt. (Schklowsky 1914; zit. n. Mierau 1991, 5)

Die Nutzung etablierter sprachlicher Muster, d.h. sprachlicher Konventionen, ist eine der zentralen kommunikativen Strategien, um Verstehen innerhalb einer (Sprach-) Gemeinschaft dauerhaft sicherzustellen. Sprachtheoretisch könnte dies als die Einhaltung der sogenannten Grice’schen Maximen gesehen werden. Andererseits finden sich nicht nur in der Literatur immer wieder Formen des kreativen Umgangs mit eben diesen Mustern einschließlich ihrer Durchbrechung; sie sind auch im alltäglichen Sprachgebrauch wie z.B. der Werbung oder im Witz zu beobachten, die als Implikaturen verstanden werden können. In seiner Theorie des Sprachwandels nimmt Keller (2003) zwei grundlegende Typen von ›Maximen‹ im sprachlichen Handeln von Menschen an, statische und dynamische Maximen. Während statische Maximen den Bestand eines Sprachsystems garantieren und die Mitglieder der Sprachgemeinschaft als (sprachliche) Gruppe konstituieren, tragen dynamische Maximen zum Sprachwandel bei. Folgende Maximen sind bei Keller als dynamisch gekennzeichnet:

Rede so, dass du beachtet wirst.
Rede so, dass du als nicht zur Gruppe gehörig erkennbar bist.
Rede amüsant, witzig usw.
Rede besonders höflich, schmeichelhaft, charmant usw. (nutzenbezogene Maxime)
Rede so, dass es dich nicht unnötig Anstrengung kostet. (kostenbezogene Maxime)

(Keller 2003, 139f.)

 

5. Linguistik und Ästhetik

Die Linguistik hat sich bislang nur ansatzweise mit Kunst und Literatur beschäftigt. Das ist im Fall der Kunst vielleicht auf den ersten Blick noch nachvollziehbar, denn bis auf den Titel sind viele Kunstwerke ›sprachfrei‹. Literatur hingegen ist Sprache, wenn auch in einer spezifischen Ausprägung. Begrüßenswerterweise lässt sich seit einiger Zeit in der Linguistik doch eine Öffnung auf die Beschäftigung mit Kunstkommunikation (verstanden als Kommunikation in einem Funktionsbereich wie dem der Medizin oder des Rechts; vgl. Hausendorf 2007, Hausendorf/Müller 2016) und Literatur in linguistischer Perspektive (Betten/Fix/Wanning 2017) beobachten.

Schönheit, um noch einmal zur Ausgangsfrage zurückzukommen, soll nicht als eine einem Objekt innewohnende Qualität verstanden werden. Vielmehr werden unterschiedliche Objekte als schön wahrgenommen. Es geht also um eine (linguistische) Theorie der ästhetischen Wahrnehmung. Ähnliche Phänomene sind z.B. Spannung und das Komische, die bislang ebenfalls erst ansatzweise untersucht worden sind. Bei allen drei Phänomenen muss unterschieden werden zwischen intendierter und nicht-intendierter Schönheit/Spannung/Komik. Eine Entscheidung darüber, ob etwas als schön, spannend oder komisch empfunden wird, treffen letztlich die Rezipient*innen. Ein Sonnenaufgang kann als schön, ein Basketballspiel als spannend, ein Stolpern als komisch empfunden, d.h. in dieser Weise rezipiert werden, ohne dass eine entsprechende Intention vorliegt. Derselbe Sonnenaufgang, dasselbe Spiel, dasselbe Stolpern kann aber auch als kitschig, langweilig oder ungeschickt bewertet werden. Andererseits können Schönheit, Spannung und Komik intendiert sein, z.B. bei einem aufwändig gestalteten Geschenk, einem Krimi oder einem Witz, was aber nicht garantiert, dass eine entsprechende Wirkung auch eintritt. Als intendiertes kommunikatives und speziell als sprachliches Handeln zielen entsprechende Angebote auf eine solche Perlokution, ohne aber diese garantieren zu können. Versteht man also solche Phänomene als mögliche Elemente kommunikativen Handelns, so hat dies Auswirkungen auf das Verständnis von ästhetischen Objekten, das dementsprechend nicht nur auf den Bereich der Kunst beschränkt werden kann, auch wenn eine solche Auffassung noch immer weit verbreitet ist.

»Ich möchte Ästhetik genereller als Aisthetik verstehen: als Thematisierung von Wahrnehmungen aller Art, sinnenhaften ebenso wie geistigen, alltäglichen wie sublimen, lebensweltlichen wie künstlerischen« (Welsch 1991, 9f.). Welsch proklamiert damit eine »Ästhetik außerhalb der Ästhetik« (Welsch 1996a), um die Grenzen der traditionellen Ästhetik über die Betrachtung der Kunst hinaus zu verschieben. Damit wird nicht die Betrachtung von Kunst als Gegenstand der Ästhetik überflüssig, sondern es findet eine Ausweitung des ästhetischen Feldes statt.

Das Wahrnehmungsvermögen des Rezipienten muß daher unterschiedliche Wahrnehmungsformen [auch außerhalb des engen Kunstbegriffs; HJD] abtasten und deren spezifische, vom Werk angeregte Konstellation herausfinden. Dabei zeichnet sich ästhetische Erfahrung insgesamt durch eine Komplexion von Anschauung, Imagination und Reflexion aus. Schon die Anschauung ist ja nicht einfachhin konstatierend, sondern prozessual und reflexiv. (Welsch 1996b, 170f.)

Schlägt man wieder den Bogen zurück zum Russischen Formalismus, so setzt ein solches Verständnis von Ästhetik die Kenntnis der »etablierten Codes« (Welsch 1996b, 170), d.h. der entsprechenden (künstlerischen) Verfahren, voraus. Auf Sprache allgemein bezogen bedeutet dies, dass eine Kenntnis der jeweiligen sprachlichen Codes Voraussetzung für die Interpretation eines sprachlichen Gegenstands als eines ästhetischen ist. Das Ästhetische besteht dann möglicherweise nicht in einem Gegenstand an sich, sondern in der Wahrnehmung der Verfremdung des Bisherigen durch den aktuellen Gebrauch.

Versteht man Schönheit, Spannung und Komik als Ergebnisse einer spezifischen Wahrnehmung/Rezeption, so ist es naheliegend, wie bereits angedeutet, eine linguistische Theorie der ästhetischen Wahrnehmung anhand der Überlegungen von Grice zu modellieren. Diekmannshenke/Reif haben in ihrer Theorie des Komischen gezeigt, dass das Komische auf einem doppelten Implikaturverfahren beruht, bei dem die Ausbeutung der Maxime der Modalität eine zentrale Rolle spielt. Da Entsprechendes hinsichtlich der Maxime der Modalität auch für das Phänomen der Spannung angenommen werden kann (Lau 2019), ist es naheliegend, dass der Maxime der Modalität ein ähnlicher Status auch innerhalb einer Theorie der ästhetischen Wahrnehmung zukommen könnte.

Deshalb soll als Ausgangspunkt der Prozess der Wahrnehmung des Komischen, das durchaus als eine spezifische Ausprägung des Ästhetischen verstanden werden kann, in einem Prozess des doppelten Implikaturverfahrens betrachtet werden:

Der/die Rezipient*in nimmt das Humorangebot als solches wahr.
Die Äußerung wird als indirekte wahrgenommen und muss entsprechend interpretiert werden.
Eine Inkongruenz verhindert eine kohärente Interpretation und triggert eine Implikatur.
Das Komikangebot wird reinterpretiert, allerdings wird auch hierbei ein Maximenverstoß konstatiert.
Der/die Produzent*in hat offensichtlich gegen die Maxime der Modalität verstoßen, damit der Rezipient zunächst der ersten Interpretation folgt, die zweite nach Erkennen der Inkongruenz vollzieht, welche jedoch auch nur zu einer Scheinauflösung der Inkongruenz führt.
Beide Interpretationen müssen wahrgenommen und als gültig betrachtet werden.
Der/die Rezipient*in distanziert sich von beiden Interpretationen und erkennt, dass bewusst von Produzent*innenseite auf einer höheren Abstraktionsebene die Maxime der Modalität verletzt wurde, um Komik zu erzeugen.
Eine dritte Interpretation muss deswegen nicht mehr erfolgen (Diekmannshenke/Reif 2009, 141f.).

Folgt man diesen Überlegungen, so bietet sich eine Übertragung oder besser eine Ausweitung auf die ästhetische Wahrnehmung generell an. Ebenso eröffnet das den Blick auf ästhetische Gegenstände als spezifische Stilphänomene: »Indem wir uns nach und nach vom Wohlklang zur Semantik, von der ›äußeren Form‹ zur ›inneren Form‹ hin bewegten, haben wir fast unbemerkt den Bereich betreten, den man für gewöhnlich der Stilistik zuschreibt« (Erlich 1973, 256). Schlussendlich lässt sich für den Russischen Formalismus das Bestreben konstatieren, »die Poetik zu einem Bestandteil der Semiotik zu machen« (Erlich 1973, 312). Formuliert Erlich dies in Bezug auf ein verändertes, strukturalistisches Verständnis von Literatur, so kann im Umkehrschluss aus dem Befund, dass Sprache insgesamt aus einer semiotischen Perspektive zu betrachten ist, gefolgert werden, dass Literatur nichts der Alltagssprache und ihren Gesprächen und Texten Entgegengesetzes ist, sondern eine spezifische Gebrauchsweise, die einerseits durch Abweichungen von der Alltagssprache geprägt wird, andererseits selbst eigenen Strukturprinzipen gehorcht, die erst einmal etabliert, dann jedoch wieder verfremdet werden.

Abb. 5: Banksy: Graffiti Removal (Banksy 2006, 64)

Das Graffito von Banksy soll die oben formulierten Überlegungen unterstützen. Der Schriftzug kann als ästhetisches Objekt wahrgenommen werden, sofern die Rezipient*innen im Wahrnehmungsprozess bestimmte Voraussetzungen aktivieren. Der Schriftzug muss als konstitutiver Teil des Graffitos interpretiert werden, nicht als von ihm Unabhängiges. Damit wird der ästhetische Anspruch durch die Rezipient*innen bestätigt, indem das gesamte Kommunikat als offensichtlich erkennbare Ausbeutung der Maxime der Modalität gedeutet wird. Das damit verbundene Schlussverfahren muss die Eigengesetzmäßigkeit von Graffiti bzw. Street Art kennen, um eben nicht die (teilweise übersprühte) Telefonnummer anzurufen, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass Banksy eine solche Handlung zweifellos als Möglichkeit des Umgangs mit seinem Werk sieht.

 

6. Noch einmal: »Habseligkeiten«

Es sollte der Versuch unternommen werden zu zeigen, dass mit dem Instrumentarium der linguistischen Pragmatik eine Theorie der ästhetischen Wahrnehmung von Sprache modelliert werden kann, im Sinne einer Aisthesis und einer Ästhetik außerhalb der Ästhetik (vgl. Welsch 1991, 1996). Was im Russischen Formalismus als Verfahren der Verfremdung zur Durchbrechung erstarrter künstlerischer Verfahren beschrieben wird, kann ebenso als ein alltagssprachliches Handeln verstanden werden kann, wobei der Unterschied nicht im Verfahren selbst, sondern im jeweiligen spezifischen Geltungsmodus (Alltag vs. ›Kunst‹) liegt, wobei der Anspruch auf ›Kunst‹ durchaus und immer wieder bestritten oder infrage gestellt werden kann und wird – »Ist das Kunst oder kann das weg?«

Abb. 6: Ist das Kunst oder kann das weg?        
(https://www.facebook.com/istdaskunstoderkanndasweg.org,
zuletzt abgerufen am 16.6.2019)

Solche Grenzüberschreitungen finden sich bei Banksy, bei dem auch im Sinne der Forderungen von Welsch der Realitätsbezug unabdingbar ist, aber z.B. auch bei Beuys, bei dem sich bei einzelnen (und auch sprachlichen) Objekten die Frage stellt, ob es sich um Kunst oder Alltägliches handelt, das als Kunst wahrgenommen wird. Als weiterer Akt der Verfremdung kann angesehen werden, dass die abgebildete Befragung von Gästen von Beuys als Postkarte verwendet wurde.

Abb. 7: Joseph Beuys: Wohlbefinden (entnommen aus Gold/Baumann/Hensch 1998, 85)

Möglicherweise bleibt das oben skizzierte Implikaturverfahren in solchen Fällen offen, denn das Gemeinte muss nicht unbedingt verstanden werden. Und wie bereits mehrmals erwähnt, gilt das letztlich auch für sprachliche Alltagsäußerungen, sofern sie entweder von den Produzent*innen oder/und von den Rezipient*innen als ästhetisch proklamiert bzw. interpretiert werden. In den letzten Jahren ist ein solcher Schritt über die bisherigen Grenzen der traditionellen Linguistik einige Male gewagt worden. Es sollten bald weitere folgen.

 

Literatur und sonstige Medien

Banksy 2006: Wall and Piece, London: Century.

Beikircher, Konrad 2004: NEE…NEE…NEE. Live.

Betten, Anne/Fix, Ulla/Wanning, Berbeli (Hg.) 2017: Handbuch Sprache in der Literatur. Berlin/Boston: De Gruyter.

Diekmannshenke, Hajo/Reif, Monika 2010: Humor: Semantik oder Pragmatik? In: Inge Pohl (Hg.): Semantische Unbestimmtheit im Lexikon. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 131-150.

Eggers, Hans 1986: Deutsche Sprachgeschichte. Bd. 2: Das Frühneuhochdeutsche und das Neuhochdeutsche. Reinbek: Rowohlt.

Erlich, Victor 1973: Russischer Formalismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Gold, Helmut/Baumann, Margret/Hensch, Doris (Hg.) 1998: »wer nicht denken will fliegt raus«. Joseph Beuys Postkarten, Sammlung Neuhaus. Heidelberg: Braus.

Hausendorf, Heiko (Hg.) 2007: Vor dem Kunstwerk. Interdisziplinäre Aspekte des Sprechens und Schreibens über Kunst. München: Wilhelm Fink.

Hausendorf, Heiko/Müller, Marcus (Hg.) 2016: Handbuch Sprache in der Kunstkommunikation. Berlin/Boston: De Gruyter.

Jakobson, Roman 1979: Linguistik und Poetik. In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, hrsg. v. Elmar Holenstein/Tarcisius Schelbert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 83-119.

Jespersen, Otto 1925: Die Sprache. Ihre Natur, Entwicklung und Entstehung. Heidelberg: Winter [zuerst engl. 1922].

Keller, Rudi 2003: Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache, 3. Aufl. Tübingen: Francke.

Kranz, Florian 1998: Eine Schifffahrt mit drei f. Positives zur Rechtschreibreform. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Lau, Josee 2019: Wie erfolgt die Spannungserzeugung in verschiedenen Medien? Eine Analyse ausgewählter Literatur, Hörbücher und Verfilmungen von Sebastian Fitzek auf linguistischer Basis, Masterarbeit Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz.

Limbach, Jutta (Hg.) 2005: »Das schönste deutsche Wort«. Eine Auswahl der schönsten Liebeserklärungen an die deutsche Sprache. Zusammengestellt aus den Einsendungen zum internationalen Wettbewerb »Das schönste deutsche Wort«. München: Huber.

Mierau, Fritz (Hg.) 1991: Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule. Leipzig: Reclam.

Riha, Karl/Schäfer, Jörgen (Hg.) 2015: DADA total. Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder. Stuttgart: Reclam.

Robertson, Eric 2016: »Hollaka hollala anlogo bung.« Subversive Glossolalie im Dada. In: Genese Dada. 100 Jahre Dada Zürich. Eine Ausstellung des Arp Museums Bahnhof Rolandseck in Zusammenarbeit mit dem Cabaret Voltaire Zürich. Zürich: Scheidegger & Spiess, 143-146.

Rühmkorf, Peter 1967: Über das Volksvermögen. Exkurse in den literarischen Untergrund. Reinbek: Rowohlt.

Sogenanntes Linksradikales Blasorchester 1981: Mit gelben Birnen. München: Trikont.

Welsch, Wolfgang 1991: Ästhetisches Denken. Stuttgart: Reclam.

Welsch, Wolfgang 1996a: Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart: Reclam.

Welsch, Wolfgang 1996b: Ästhetik außerhalb der Ästhetik. In: Ders.: Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart: Reclam, 135-177.

 

Online-Quellen

https://www.berliner-kurier.de/ratgeber/reise/es-ist-nicht-franzoesisch-die-sprache-mit-dem-hoechsten-sex-appeal-ist—-32458484, zuletzt abgerufen am 16.06.19.

www.deutscher-sprachrat.de, zuletzt abgerufen am 16.06.19.

http://www.deutscher-sprachrat.de/aktionen/299/die-gewinner/, zuletzt abgerufen am 16.06.19.

https://www.facebook.com/istdaskunstoderkanndasweg.org, zuletzt abgerufen am 16.06.19.

Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch; online: woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB, zuletzt abgerufen am 16.6.2019.

https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/wettbewerb-habseligkeiten-ist-schoenstes-deutsches-wort-a-324670.html, zuletzt abgerufen am 16.06.19

https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/dialekte-saechsisch-ist-unbeliebteste-mundart-der-deutschen-a-859108.html, zuletzt abgerufen am 16.06.19.

https://www.youtube.com/watch?v=2vSG-tXZxQc, zuletzt abgerufen am 16.06.19.

 


 

1 Die Theorie des Russischen Formalismus erweist sich bei genauerer Betrachtung nicht als ein geschlossenes System, sondern offenbart durchaus unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der poetischen und der »praktischen« Sprache (Erlich 1973, 200f.).

2 Es darf aber auch nicht übersehen werden, dass gerade fremde Schriftsysteme auch als ästhetische Objekte wahrgenommen werden können. Wer einmal vor dem Felsendom in Jerusalem gestanden hat, wird beim ersten Anschauen die arabischen Schriftzeichen möglicherweise erst einmal als künstlerische Gestaltung wahrnehmen und nicht als Schrift. Zudem gibt es die in vielen Kulturen heute fast vergessene Disziplin der Kalligraphie als ›Schriftkunst‹.